Durch den Monat mit Ruth Genner (Teil 1): Nahm man Sie ernst?

Nr. 5 –

WOZ: Sie haben an der ETH Zürich Lebensmittel-Ingenieurin studiert, was muss man sich darunter vorstellen?
Ruth Genner: Lebensmittel-Ingenieure machen die Produkte, welche die Bauern herstellen, haltbar und verpacken sie.

Lebensmittel-Ingenieure machen beispielsweise Härdöpfelstock?
Genau, sie entwickeln Trocknungsverfahren, um Kartoffelflocken herzustellen. Solche Konservierungstechniken zu entwickeln, ist wichtig, denn ein grosser Teil der vorhandenen Lebensmittel würde verderben, wenn man ihn nicht in irgendeiner Form haltbar und transportierfähig machen könnte.

Wie kamen Sie denn darauf, so ein Studium zu machen?
Ich wollte etwas zur Bekämpfung des Hungers auf der Welt beitragen. Denn Hunger ist eine gemeine Waffe und eine grosse Ungerechtigkeit. Lange wollte ich in die Dritte Welt und dort bei konkreten Projekten mitarbeiten. Das ging dann später aus familiären Gründen nicht mehr. Mir wurde aber auch klar, dass wir auf der Welt genug Lebensmittel haben und dass Hunger vor allem ein Verteil- und Machtproblem ist.

Und Ihre Diplomarbeit hatte dann auch etwas mit Ihrer Ursprungsidee zu tun?
Nein, ich habe eine sehr analytische, chemische Arbeit gemacht – über Johannisbrot. Das ist eine braune Schote vom Johannisbrotbaum, sie enthält verschiedenste Zuckerarten. Und in der Schote hat es Kerne, daraus wird das Johannisbrotkernmehl gewonnen, ein sehr gutes Verdickungsmittel. Das braucht man in der Lebensmittelindustrie und vor allem für Tierfutter. Jedenfalls: Was in grosser Menge übrig bleibt, wenn man die Kerne herausgenommen hat, ist das Johannisbrot. Das ist sehr zuckerhaltig und schmeckt etwas malzig. Nach dem Rösten erinnert das Johannisbrotmehl an Kakao. Ich untersuchte in meiner Arbeit, ob es einen Inhaltsstoff gibt, der Johannisbrot von echtem Kakao unterscheidet, sodass man Fälschungen erkennen kann. Eben, eine sehr chemische Untersuchung. Das habe ich nachher nicht mehr gemacht.

Aber Sie blieben vorerst an der ETH.
Ja, aber ich habe dann im lebensmittelsensorischen Bereich gearbeitet. Dort geht es darum, herauszufinden, wie 
Lebensmittel wahrgenommen werden – zum Beispiel, wann jemand etwas als süss oder dann als zu süss empfindet. Solche Wahrnehmungen hängen von verschiedensten Faktoren ab, einerseits von der Zusammensetzung der Nahrung, von der Temperatur und ganz wesentlich von den einzelnen Menschen selber. Wir sind sehr verschieden. Gerade im Bereich dieser individuellen Wahrnehmung habe ich viel gelernt. Übrigens gelten auch für die Lärmwahrnehmung genau die gleichen Gesetze.

Noch während Sie Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der ETH waren, wurden Sie 1987 Zürcher Kantonsrätin für die Grünen. Warum für die Grünen?
Nach dem Studium war ich SP-Sympathisantin. Dann war 1983 die Nichtwahl von Lilian Uchtenhagen – sie wurde nicht Bundesrätin –, und die SP hat gross diskutiert, aber nicht gehandelt. Damit war für mich die SP keine Option mehr. Die Grünen machten von Anfang an aktive Frauenförderung in der Partei und meinten es damit wirklich ernst. Das überzeugte mich.

Die Grünen waren damals die Shootingstars: Bei Ihrer Wahl in den Kantonsrat kam die Partei mit einem Schlag von 4 auf 22 Sitze. Sie selbst waren da gerade mal 31 Jahre alt. Wurden Sie von den andern Ratsmitgliedern als Mitglied einer neuen und kleinen Partei ernst genommen?
Andere waren sogar noch jünger als ich. Aber wir wurden von Anfang an ernst genommen. Wir waren alles sehr motivierte, gut ausgebildete Leute mit einem grossen Know-how. Wir haben uns in den Kommissionen in die Arbeit gekniet und viel geleistet. Damit haben wir uns Respekt verschafft. Ich war damals in der Verkehrskommission, in der es um die Realisierung des Zürcher Verkehrsverbundes ZVV ging. Da zogen alle Parteien am gleichen Strick. Wir haben in der Kommission um Kompromisse gerungen, damit das Projekt zustande kommen konnte. Heute sind solche Dinge kaum mehr möglich.

Hat das nicht damit zu tun, dass Sie seit 1998 als Nationalrätin auf Bundes- und nicht mehr auf Kantonsebene politisieren?
Nein. Das Verständnis der bürgerlichen Parteien hat sich sehr verändert: Gerade die SVP versteht sich explizit nicht mehr als staatstragende Partei. Ausserdem ist der Profilierungsdrang der Einzelparteien viel grösser. Bei Kommissionsbeschlüssen machen sie ihre abweichenden Positionen mit Minderheitsanträgen sichtbar. Kompromisse sind seltener möglich.

Ruth Genner, 49, sass von 1987 bis 
1997 im Zürcher Kantonsrat. Seit 1998 
ist sie Nationalrätin, seit 2003 Präsidentin der Grünen Partei Schweiz. Am 
27. Februar [2005] finden im Kanton Zürich Regierungsratsersatzwahlen statt, 
für die sie kandidiert.