Fussballgeschichten: Die H-Fans auf der Gegentribüne

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Ein neuer König geht um auf Europas Fussballplätzen: der V-Fan. Für ihn werden an der WM 2006 in Deutschland «bevorzugte Parkmöglichkeiten, herausragende Gastronomie, persönliche Betreuung, kleine Aufmerksamkeiten und ein Extra-Unterhaltungsangebot» bereitgestellt, wie das «Hospitality-Programm» der Veranstalter verspricht. Für etwa 5000 Euro pro Partie sieht der V-Fan als Zugabe noch ein Fussballspiel und hört ein Fussballambiente, für das die übrigen BesucherInnen sorgen. Diese werden seit längerem von der Polizei in drei Kategorien eingeteilt: A (gewaltlose BesucherInnen), B (latent gewaltbereite Fans), C (gewalttätige Fans).

Doch nun macht sich eine weitere Kategorie bemerkbar, nennen wir sie H-Fans: Sie sind hingebungs- und humorvoll, fussballhistorisch bewandert, kritisch hinterfragend und darum manchmal hart in ihren Kommentaren - und dann werden sie auch laut.

Hutter und Mock sind solche H-Fans. Der eine ist Museumskonservator, der andere Bankstellenleiter - und ihr Herz schlägt laut für den FC St. Gallen. Das verbindet sie, bei jedem Heimspiel stehen sie nebeneinander auf der Gegentribüne. In jenem Stehplatzsektor entlang der Seitenlinie im Espenmoos, den es in einem neuen Stadion nicht mehr geben wird. Manchmal werfen sie auch WC-Rollen Richtung Spielfeld, wobei es Mock bis zur Eckfahne schafft: «Mock, das ist wahre Poesie. Erinnert mich an Roman Signer, der mit Raketen Bänder über den Krater des Stromboli geschossen hat», sagt dann Hutter. - «Danke für die Information, Hutter. Aber erklär das lieber dem SFV-Vorstand, denn die haben von Fankultur keine Ahnung», antwortet Mock.

Seit der Finalrunde 2002 gehören Hutter und Mock in jedem Matchprogramm des FC St. Gallen eine Seite - ein Kabinettstückchen inmitten der üblichen Statistiken, Spielerporträts und Vereinsmeiereien. Erfunden hat sie Daniel Kehl, Jahrgang 1962, seit fast dann FC-St.-Gallen-Fan, Lehrer und freier Schreiber. Nun liegen seine bis heute erschienenen «Hutter & Mock»-Kolumnen chronologisch in Buchform vor. Das macht sie auch für Fussballfans interessant, die anderswo beheimat sind.

Einerseits erlebt die Leserin mit Hutter und Mock noch einmal die grünweissen Heimspiele der letzten Jahre, die nach dem Meistertitel 2000 von grossen Hoffnungen und ebensolchen Enttäuschungen geprägt waren - und damit eine emotionale Geschichtsschreibung, die (fast) jeder andere Klub auch kennt. Andererseits geht der Leser mit Hutter und Mock auf Fussballreisen: an Auswärtsspiele nach Delémont, Zürich oder mit der Schweizer Nati nach Dublin. Und erfährt in der Halbzeit noch einiges über deren persönliche Lebensverhältnisse, Rituale und einen Kater namens Asamoah. Kehl schildert all dies amüsant, einfühlsam und mit Blick fürs Detail.

«Hutter stand unter der Tür und legte sich den grünweissen Schal um», ist der erste Satz des Buchs; «Mock krümmte sich vor Entsetzen und schüttete seinen Bierbecher über Hutters Jacke aus», ist der letzte. Ihre Geschichte wird weitergehen: Wenn Hutter und Mock zusammen wieder einmal verloren haben, dann sind sie in Gedanken schon beim nächsten Spiel. Das unterscheidet sie von den diskret applaudierenden V-Fans. Denn von A wie Altlasten bis Z wie Zynismus bringen sie jedes Mal ein ganzes Fussballleben mit ins Stadion - und vor allem ihr Herz.