Michael Jackson: Das jüngste Gericht

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Die Stimme! Die Nase! Die Kinder! Aus dem Kinderstar Michael Jackson wurde ein 46-jähriges Kind, das sich in einen kollektiven Albtraum verwandelt hat. Ein Bericht von einem kranken Prozess gegen einen Kranken.

Schuldig oder nicht schuldig? Hat Michael Jackson eines der im kollektiven Wertesystem schlimmsten Verbrechen begangen und kleine Jungen sexuell missbraucht? Im Gespräch mit anderen - in Los Angeles sprechen alle darüber - ist das eine Glaubenssache. Im Gerichtssaal reduziert sich die Frage auf: nachweisbar? Im Gegensatz zum Prozess gegen den Sportstar O. J. Simpson wird es keine Livebilder von der Verhandlung geben. An der Rolle des Fernsehens als Spiegel und Taschenuhr der öffentlichen Meinung wird das trotzdem nichts ändern. Im Gegenteil, die Berichte der JournalistInnen vor Ort werden noch subjektiver und mächtiger sein. Für ein ganz besonderes Spektakel haben sich der US-Kanal E (das E steht für Entertainment) und die britischen Sky News verbündet. Beginnt nach Auswahl der Jury Anfang März das Hauptverfahren mit den Plädoyers, produzieren die Sender jede Nacht mit SchauspielerInnen eine Version des Prozesstages. Das Drehbuch schreiben die Gerichtsprotokolle. Es wird noch gecastet.

Michael Jackson ist einer der bekanntesten Menschen des Planeten. In den nächsten sechs Monaten werden wir so viel Intimes aus seinem Leben erfahren wie nie zuvor. Wir werden dabei viel über uns erfahren und über die Gesellschaft, in der wir leben. Aber die Wahrheit?

Er hat gewinkt

«Jaaaaa, die Sonne fühlt sich gut an.» Der Körper zur Stimme spannt sich, bis die Rippen unter der bleichen Haut hervorstechen. Kameras klicken. Schnell schwingt er die Taille, einmal, zweimal. Christian aus Oakland trägt nichts ausser einer schwarzen Jeans, an den Beinen eng geschnürt. Der 19-Jährige richtet seine grossen Augen in den Himmel, fährt sich durch das dichte Rasta-Haar. «Wenn dieses Land Michael Jackson nicht ertragen kann, wird es auch für mich und meine Freunde eng. Deshalb bin ich hier. Peace.» Es ist sein fünfzigstes Interview, «ungefähr». Neben seiner demonstrierten Solidarität nutzt er, selbst ein «Künstler», wie viele andere die Gelegenheit zu fünfzehn Minuten Ruhm. Ihre Bühne ist die zur Fan Observatory Base umfunktionierte Miller Street, dahinter wartet die Welt.

1100 JournalistInnen haben sich am vorletzten Montag zum Auftakt des Prozesses «Die Bürger Kaliforniens gegen Michael Jackson, Fall Nr. 1 133 603» am Gericht von Santa Maria akkreditiert. Zeitungen und Fernsehsender bezahlen für ihre VertreterInnen zwischen 125 und 300 Dollar pro Tag an die Verwaltung von Santa Barbara County. Geld, mit dem die Prozesskosten von geschätzten zwei Millionen Dollar gedeckt werden sollen. Zwei Dutzend Übertragungswagen sind um den flachen Gerichtsbau geparkt. Michael Jackson? Der ist vor einer Stunde im Gebäude verschwunden. Er hat gewinkt. Es wurde gekreischt. ReporterInnen schweben für Liveberichte auf Hebebühnen in die Luft. Auf dem Dach der gegenüberliegenden Anwaltskanzlei kann man noch Media Space mieten. Die «Santa Maria Times» bejubelt diesen «Glücksfall» für die einheimische Wirtschaft.

82 000 Menschen leben im kalifornischen Santa Maria, aus ihrem Kreis wählen Verteidiger und Staatsanwalt die zwölfköpfige Jury und acht Ersatzpersonen. Das Ortsschild verrät: Wir sind in der «All American Town». Viele RentnerInnen wohnen hier. Die Immobilienpreise sind im Vergleich zu Santa Barbara moderat. Es gibt kein hohes Haus, ohne Auto bist du verloren. Auf den endlosen Feldern werden Wein, Erdbeeren und Broccoli angebaut. Die Vanderberg Air Force Base ist der grösste Arbeitgeber der Region. Auf dem Parkplatz vor Rite Aid bittet ein unrasierter Mann um Dollars. Er sagt, er sei ein Vietnamveteran.

Hinter dem Gerichtsgebäude liegt das Café Dion, das zum Pressezentrum umfunktioniert wurde. Kaffee, Bagels, Salat haben Festivalpreise. Grosses Hallo, willkommen im Camp Michael. Sat.1 setzt sich zu RTL. Kollegenklatsch über Diane Diamond, Court-TV-Reporterin und prominenteste wie eifrigste Jägerin im Fall Jackson. Sie soll selbstgebackenen Kuchen verschenkt haben. «Seitdem hat mein Magen Durchfall», erzählt ein Kameramann. Erste Langeweile. «Drin» sein, das ist nur einer kleinen Elite von sechzig JournalistInnen erlaubt.

Die Hauptakteure

In den Zeitungen seit Tagen: Porträts der Hauptakteure. Der Richter, Rodney Melville, 63 Jahre alt, ein Republikaner, gilt als streng und fair. Er ist verheiratet, zwei Töchter, zwei Enkel. Lebt auf einer Ranch, reitet Pferde. Er will nicht «ein zweiter Lance Ito» werden, wie der Celebrity-süchtige Richter des O.-J.-Simpson-Verfahrens hiess. Melville wurde berühmt mit seiner Beichte im lokalen Fernsehen, über dreissig Jahre als starker Alkoholiker gelebt zu haben.

Jacksons Verteidiger, Thomas A. Mesereau Jr, ist 53 Jahre alt und eine überraschende Wahl. Drei langjährige Jackson-Anwälte hatten letztes Jahr ihr Mandat niedergelegt, zwei aus ungenannten Gründen, einer wegen einer Gehirnoperation. Mesereau hat mehrere sozial benachteiligte Familien und den Boxer Mike Tyson vertreten. Mit Charles Manson soll er sich zu einem Gespräch im Gefängnis getroffen haben. Sein erster Schachzug: Wegen einer «schweren Erkrankung» seiner Schwester erreichte Mesereau, dass der Prozess am Anfang der sensiblen zweiten Woche für einige Tage ausgesetzt wird. Das gibt der Verteidigung (und der Anklage) mehr Zeit, über die in der ersten Woche auf 250 Personen eingegrenzten potenziellen Geschworenen zu recherchieren.

Der Ankläger und Bezirksstaatsanwalt von Santa Barbara, Tom W. Sneddon Jr (selbstgepflegter Spitzname: «Mad Dog»), ist 63 Jahre alt, Vietnamveteran, Katholik und ebenfalls ein Republikaner. Er hat Michael Jackson schon einmal nackt gesehen. 1993 war das, um die Anschuldigungen von Jordie Chandler, damals dreizehn, zu überprüfen. Bekanntlich scheiterte das Verfahren, Sneddon gilt seitdem als besessen in Sachen Jackson. Er hat neun Kinder, spielt Golf und engagiert sich im Jugendsportverein. Nach einer misslungenen Pressekonferenz im letzten Jahr hat er eine PR-Firma engagiert, die ihn während der nächsten Monate berät.

In der Miller Street blitzen zwei Fotografen ein Fanmädchen. Auf ihrem T-Shirt prangt das Bild des jungen Michael Jackson, darüber gedruckt: «100 % innocent». So wahr Unschuld ein exklusiver Wert aller Kinder ist, so ironisch wirkt das Wort an dieser Stelle. Denn das älteste missbrauchte Kind in diesem Verfahren sitzt auf der Anklagebank.

Die Legende des Clans

Michael Jackson ist sieben, acht Jahre alt, als er zusammen mit seinen vier Brüdern, den Jackson Five, und Vater Joe kreuz und quer durch Amerika zieht. Joe Jackson, der drei Jobs, unter anderem als Kranführer, hat, nimmt jedes Engagement an. Oft sind die Bühnen Stripclubs. Bald folgen die ersten Fernsehauftritte, Amerika ist begeistert, vor allem von dem süssen jungen Michael, der schnell lernt, dass Lügen in Ordnung geht, wenn es dem Verkauf dient. «Ah ... ich bin neun», sagt der Elfjährige.

Die Legende des Jackson-Clans, erzählt von einem ehrgeizigen Vater, der seine Familie mit neun Kindern aus dem Holzhaus in Gary, Indiana, in ein besseres Leben führen möchte. Dabei rutscht ihm manchmal die Hand aus, keine Seltenheit im Namen des amerikanischen Traums. Doch die hervorragende Fernsehdokumentation «Michael Jacksons Secret Childhood» erzählt von einer weit gespenstischeren Realität.

Michael Jacksons erste Konfrontation mit Sexualität: die älteren Brüder, die sich mit zahlreichen Groupies im gemeinsamen Zimmer vergnügen. Auch Joe Jackson soll dort immer wieder angetrunken mit jungen Frauen vor den Augen seiner Kinder Sex gehabt haben. Ereignisse, von denen Mutter Katherine, die strenge Zeugin Jehovas ist, nichts wissen darf. Nach den Lehren der Zeugen Jehovas, von denen auch Michael stark beeinflusst ist, sind ausserehelicher Sex, aber auch Homosexualität Komplizen des Satans. Michael Jackson muss lügen und steht zwischen seinen Eltern. Seine Kindheit und Jugend ist eine unglückliche Zeit, die der Pubertät keinen Platz lässt. Später, als die Presse immer penetranter vermutet, der junge Star sei schwul, schickt ihm Vater Joe Prostituierte aufs Zimmer. Mutter Katherine arrangiert Verabredungen mit hübschen Jehova-Mädchen. Michael spricht mit ihnen über den Teufel.

Die unerträgliche Ikone

Am letzten Wochenende präsentierte die Hollywood-Reporterin Daphne Barak auf allen grossen US-Kanälen ein Interview mit Katherine und Joe Jackson. Wir sahen eine Mutter, die verzweifelt an die Unschuld ihres Sohnes glaubt und in der Nacht schreit. Einen ewig grinsenden Vater, der «Rassismus» als Leitmotiv der Anklage reklamiert. Die Bilder zeigten eine kaputte Familie, die sich selbst und ihre Kinder gierig dem Traum von Wohlstand und Anerkennung geopfert hat.

Joe Jacksons Spitzname für seinen Sohn Michael ist: «Grosse Nase». Als der zum ersten Mal für längere Zeit ohne den Vater lebt, ist er zwanzig und ein tief verunsicherter junger Mann. Er spricht mit der Stimme einer Fee. 1978 zieht Michael Jackson für einige Monate nach New York, um in den Astoria Studios den Film «The Wiz», ein Adaption des «Zauberers von Oz», zu drehen. In der Hauptrolle Diana Ross, damals die wilde Queen des afroamerikanischen Pops. Sie nimmt den schüchternen Michael unter ihre Fittiche und mit in seinen ersten Klub, das Studio 54. Dort trifft er Truman Capote, Andy Warhol, Elizabeth Taylor und all die anderen Glitteratis, die entschlossen den nächsten Morgen in Scherben schlagen. Doch an Michael erinnern sich Anwesende als stillen Beobachter, der sich vom Upstairs und Downstairs fernhält, wo freizügig fremde Körper und illegale Substanzen konsumiert werden. Es ist nicht sein Spielplatz.

Stattdessen träumt sich Michael, seit seinem von Quincy Jones produzierten Debütsoloalbum «Off the Wall» ein hoffnungsvoller Superstar, in eine Welt der Märchen - und der Schönheitsoperationen. 1984 erscheint «Thriller», das sich bis heute 56 Millionen Mal verkauft hat, wahrscheinlich für alle Zeiten das erfolgreichste Album. Zum ersten Mal wird sichtbar, dass seine Nase mehrfach operiert und die Haut aufgehellt ist. Er verfolgte konsequent das von David Bowie eingeführte und bis heute gültige Konzept für alle erfolgreichen KünstlerInnen der populären Musik: zu jeder neuen Platte ein neues Image und ein neuer (imitierbarer) Look.

Als «Thriller» erscheint, ist er 24, ein Megastar und schon auf dem Höhepunkt seiner Karriere und - so schrecklich das klingt - seines Lebens. Einem verschwenderisch schnellen Leben, das wir alle als KonsumentInnen verzehrt und herausgefordert haben. Wir singen mit dem Autoradio «Billie Jean» und tanzen vor dem Ausgehen einen Moonwalk in den Spiegel. Michael Jackson hilft uns den Stress des Alltags zu vergessen. Doch ihn selber verstehen und ertragen wir nicht mehr. Es ist die Nase, die uns am meisten schmerzt. Sie ist wie der Schorf einer Wunde, an der man gedankenverloren kratzt für etwas Entspannung. Sie ist seine Schwachstelle, die er offen im Gesicht trägt. In einer Zeit, in der Schönheitsoperationen so normal wie ein Zahnarztbesuch werden, erinnert sie an die rätselhafte, gefährliche Seite der menschlichen Existenz. Michael Jackson ist uns zur unerträglichen Ikone geworden, zum Monster unserer Träume.

Verkauft er, oder schreckt er ab?

Die Anklage wirft Michael Jackson vor, im Februar und März 2003 den damals dreizehnjährigen Gavin Arvizo mehrfach sexuell berührt zu haben, nachdem er ihn mit Alkohol «gefügig» gemacht habe. Auslöser war ein Dokumentarfilm, der eigentlich Jacksons Comeback einläuten sollte. Monatelang durfte Regisseur Michael Bashir in Neverland, Jacksons Anwesen, drehen. «Living with Michael Jackson» sahen allein in Grossbritannien fünfzehn Millionen Menschen. Danach stiegen fünf Jackson-Alben in die Top 100. Doch im Film sieht man auch, wie Gavin mit dem 46-jährigen Sänger Händchen hält. Und der erklärt, mit Kindern zu schlafen sei wunderbar.

In den nächsten Monaten wird sich zeigen, wie viele Parallelen es zwischen Gavin und Jordie gibt - und wie viele Unterschiede möglicherweise. Jordie Chandler ist der Junge, gegenüber dessen Eltern sich Jackson vor über zehn Jahren in einem skurrilen Vertrag zur Zahlung von geschätzten 25 Millionen Dollar verpflichtete, wenn diese im Gegenzug ihre Zivilklage wegen sexuellen Missbrauchs fallen liessen. Im letzten Jahr beschrieb der deutsche Journalist und Michael-Jackson-Kenner Ingo Mocek in der «Süddeutschen Zeitung», wie es zu den Anschuldigungen kam: Chandlers Vater, erfolgloser Drehbuchautor (er bot Jackson vier Drehbücher für fünf Millionen Dollar an) und verschuldet, verbündete sich - entschlossen, alles zu tun, «wenn ich nicht bekomme, was ich möchte» - mit einem ebenfalls hoch verschuldeten ehemaligen Anwalt, der früher Ozzy Osbourne vertreten hatte. Gemeinsam injizierten sie dem Jungen Sodiumamyatal, ein Barbiturat, unter dessen Einfluss er den Missbrauch bestätigte.

Über die Mutter von Gavin Arvizo weiss man, dass sie seit ihrer erneuten Heirat letztes Jahr ausgerechnet den Namen Janet Jackson trägt. Vor dem Prozess traf sie sich mit Tom Sneddon auf einem Parkplatz in Beverly Hills, wo der Ankläger ihr über einen staatlichen Fond finanzielle Unterstützung zusicherte. 1998 hatte die Mutter Kaufhausdetektive wegen sexueller Belästigung verklagt und in einer Schlichtungsvereinbarung 163 000 Dollar erhalten. Ihren Exehemann hatte sie ebenfalls wegen sexueller Gewalt verklagt.

Schuldig oder nicht schuldig? Auf dem TV-Sender NBC diskutiert der Chefredaktor von «People», dem amerikanischen Pendant zum Klatschmagazin «Bunte», ob ein Bild von Michael Jackson auf der Titelseite den Verkauf des Magazins eher fördert oder verhindert. Im Virgin Megastore gibt es Jacksons Platten für reduzierte zehn Dollar. Das Fieber steigt.