Harald Szeemann: Pionier auf einer fröhlichen Insel

Nr. 8 –

Der Doyen der Kuratorenriege hinterlässt im internationalen Kunstbetrieb eine grosse Leerstelle.

Die Kunst der letzten vierzig Jahre ist ohne Harald Szeemann kaum vorstellbar - so massgeblich hat der Schweizer Kunsthistoriker diese Epoche als Ausstellungsmacher mitgeprägt. Und ganz nebenbei dieses Metier erst eigentlich erfunden. Nach acht turbulenten Jahren als Direktor der Kunsthalle Bern gründete Szeemann 1969 seine «Agentur für geistige Gastarbeit» und war fortan als freier Kurator tätig - eine Arbeitsform, die es bis dahin gar nicht gab. In den achtziger und neunziger Jahren erlebte dieser prekäre Berufsstand seine Blütezeit, nicht zuletzt durch den Jahr für Jahr von den Universitäten produzierten Überschuss an KunsthistorikerInnen, eine allgemeine Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse sowie einen nie gekannten Boom im Ausstellungswesen. Inzwischen ist die Bedeutung des Kurators, der Kuratorin bereits wieder am Schwinden. Fast scheint es, als würde die glamouröse Profession mit ihrem Erfinder - Harald Szeemann ist vergangenen Freitag 71-jährig in Locarno an Lungenkrebs gestorben - zu Grabe getragen.

Die Ausstellung als Kunstwerk

Angefangen hat alles 1961, als Szeemann als jüngster Kurator weltweit die Leitung der Kunsthalle Bern übernahm. Sein Ausstellungsprogramm umfasste schon damals nicht nur die neuesten Tendenzen der zeitgenössischen Kunst - 1962 schockte er das hiesige Publikum mit Pop-Art von Jasper Johns und Robert Rauschenberg -, sondern er zeigte bereits 1963 «Bildnerei der Geisteskranken», 1964 unter dem Titel «Ex Voto» Erzeugnisse der religiösen Volkskunst oder 1967 eine thematische Ausstellung über «Science Fiction», welche den engen Rahmen der Hochkunst sprengten und bereits deutlich die grenzüberschreitende Handschrift des künftigen Künstlerkurators trugen. Am meisten zu reden - und zu streiten - aber gab 1969 die Ausstellung «When Attitudes Become Form» (Wenn Haltungen Gestalt annehmen), in denen Szeemann die jüngsten Positionen der italienischen Arte povera und der amerikanischen Minimalart vereinigte und deren prozessorientierte Installationen auf die Ausstellungsform übertrug - und damit die Ausstellung selbst zum eigentlichen Kunstwerk machte.

Nach acht aufregenden Jahren räumte Szeemann, nicht ganz freiwillig, seinen Direktorenposten in Bern, liess sich in Tegna im Maggiatal nieder und arbeitete fortan als freier Ausstellungsmacher. «Wenn man in einer Institution arbeitet, braucht es halt sehr viel Geduld, bis man die anderen von einer Idee so weit überzeugt hat, dass sie das Gefühl haben, sie seien selber darauf gekommen. Seit 1969, also seit der Gründung meiner 'Agentur für Geistige Gastarbeit', lebe ich jetzt auf einer fröhlichen Insel, alle Instanzen und Kommissionen sind in einer Person, nämlich meiner, vereinigt. Da habe ich die nötige Freiheit, meine Obsessionen mit der Vita contemplativa in eine Balance zu bringen», erklärte Szeemann später seine Arbeits- und Lebensform. Seinen Ruf als eigensinniger und visionärer Kunstvermittler festigte Harald Szeemann 1972 als Leiter der Documenta 5 in Kassel. Unter dem Titel «Individuelle Mythologien» inszenierte er ein antimuseales Ereignis, in dem neben Happenings und Aktionen auch Kitsch, Folklore und Werbung ihren Platz fanden. Bezeichnend dafür war der Beitrag von Joseph Beuys, der in Kassel ein Informationsbüro für Volksabstimmung einrichtete und während der Dauer der Ausstellung mit dem Publikum über direkte Demokratie diskutierte. Von vielen bis heute als radikalste Documenta bezeichnet, sorgte sie allerdings schon damals für vereinzelte Stimmen, die Szeemanns Konzept als autoritär und künstlerfeindlich kritisierten. So warf ihm der französische Künstler Daniel Buren vor, die einzelnen Werke einer subjektiven Inszenierung zu unterwerfen und damit in ihrer Aussage zu beschneiden.

Über zweihundert Ausstellungen hat Harald Szeemann insgesamt realisiert, einen Grossteil davon im Kunsthaus Zürich, wo er von 1978 an rund zwanzig Jahre als freier Kurator tätig war. Ein Höhepunkt dieser Serie war zweifellos das Projekt «Der Hang zum Gesamtkunstwerk: Europäische Utopien seit 1800», in dem er 1983 die «Geschichte vom Totalanspruch des kreativen Einzelnen» (Katalogtext), der auch seiner war, in ihrer ganzen Breite umsetzen konnte. Der Reigen der darin vertretenen Künstler reichte von Richard Wagner über Gottfried Keller und Rudolf Steiner bis zu Kasimir Malewitsch und Marcel Duchamp. «Das Ganze geben, den Zusammenhang mit dem Universum aufdecken oder ein geballtes Universum realisieren zu wollen, ist nur ein Hang, ein Bekenntnis, eine Obsession, ein Destillat aus Kunst und Erlösungswunsch. Das Gesamtkunstwerk gibt es nicht. Würden die Wunschträume und Ideen imaginierter Zusammenhänge realisiert, also der Gesellschaft aufoktroyiert, würde daraus, wie gehabt, der totalitäre Staat, und das bedeutet(e) die Arretierung der individuellen, libidinösen und geistigen Impulse.» Ohne jeden Zweifel zeigte Harald Szeemann, der einst auch vom «Museum der Obessionen» gesprochen hatte, ein Sensorium für die Problematik des Strebens nach dem Gesamtkunstwerk. Doch im Bewusstsein, nur im einigermassen harmlosen Raum der Kunst zu wirken, wo solche Fantasien ohne realpolitische Konsequenzen blieben, konnte oder wollte er sich auch später nicht ganz von solchen Vorstellungen lösen.

Noch einmal das Ganze schaffen

Ganz deutlich kam dieser Anspruch, in einer Zeit der zerfallenden Weltbilder noch einmal ein Ganzes zu schaffen, bei der Biennale von Venedig 2001 - seiner zweiten nach 1999 - zum Ausdruck, die den Titel «Plateau der Menschheit» trug. Die überlebensgrosse Figur eines kauernden Knaben, eine hyperrealistische Skulptur des Amerikaners Ron Mueck, bildete damals den Auftakt zu einer ausufernden, aber trotz allem übersichtlich-harmonischen Schau im Arsenale. Erst als im Jahr 2003 Szeemans Nachfolger, der Italiener Francesco Bonami, zehn weitere KuratorInnen aus verschiedenen Kontinenten einlud, ihre je eigene Ausstellung in den gewaltigen Räumen der ehemaligen venezianischen Schiffswerft einzurichten, wurde klar, wie sehr die ordnende Hand des grossen Maestro Szeemann die Kunst ausgewählt und seinem eigenen Universum einverleibt hatte.

In seiner Zeit als freier Kurator am Kunsthaus Zürich hat Szeemann eine ganze Reihe von Einzelausstellungen organisiert - unter anderem von Cy Twombly, Eugène Delacroix, Victor Hugo, Joseph Beuys, Mario Merz, Richard Serra, Walter de Maria und Bruce Nauman. Dem Schöpfer der «Junggesellenmaschinen» (1975) war indes schlicht entgangen, dass inzwischen auch Frauen und Nichteuropäer einen Platz in der Kunstwelt erobert hatten. Trotz seiner patriarchalen, der abendländischen Geschichte verpflichteten Weltsicht, wie sie die Kunst des 20. Jahrhunderts dominierte, möchte man Szeemanns grossartige Ausstellungen, sein unermüdliches Engagement für die Kunst und die Künstler und seine charismatische Persönlichkeit um keinen Preis missen.

Voraussichtlich im August dieses Jahres wird eine Buchpublikation erscheinen.

Bezzola, Tobias; Kurzmeyer, Roman (Hg.): «Harald Szeemann - with by through because towards despite». Catalogue of all Exhibitions 1957-2001. Edition Voldemeer, Verlag Springer, Wien, New York 2005.