Globalia: Barbarische Zivilisation

Nr. 9 –

Jean-Christophe Rufin ist Schriftsteller, Arzt, Mitbegründer der Ärzte ohne Grenzen, Präsidentenberater und Essayist. In seinem neuen utopischen Roman «Globalia» legt er seine Vision der schönen neuen Weltordnung vor.

Der Effekt von Büchern wie Orwells «1984» liegt darin, dass sie das Publikum irreführen. «Sie projizieren einen Stand der Dinge, der bereits existiert, in die Zukunft», notierte Marshall McLuhan schon 1951, nachdem er Orwells Utopie von der überwachten Gesellschaft gelesen hatte: «Das zieht die Aufmerksamkeit von den gegenwärtigen Tatsachen ab.»

McLuhan formulierte damals das innere Gesetz dieser faszinierenden Gattung: Die Romane der schönen neuen Welt beziehen ihre Kraft nicht aus einer kühnen Vision, sondern aus der Nähe ihrer Utopie zum schon spürbaren Epochenbruch. Sie sind plausibel. Die Kontrollgesellschaft zeigte sich längst, als Orwell 1948 seinen Roman schrieb und publizierte. Als Autor spielt er mit dem Verlust von Freiheit, kaschiert dies aber zugleich hinter technischen Gadgets, die das bereits Eintretende in künftige Ferne transportieren - also auf sichere Distanz.

Auch die Menschen von «Globalia», dem jüngsten Roman des französischen Schriftstellers Jean-Christophe Rufin, verfügen über ein paar nette Errungenschaften. Globalianer leben unter einer klimatisierten Glaskuppel, Schönwetterkanonen verrichten ihren Dienst, man reist in Windeseile, kommuniziert über Multifons, die zugleich ein ganzes Leben speichern. Globalianer werden hunderte von Jahren alt. Krieg, Not, Krankheiten sind gebannt, Nationen, Religionen und das Gewicht der Geschichte haben abgedankt. Alle sechzig Jahre wird der Kalender auf null gestellt. Globalia hat keinen Ursprung, aber eine strahlende Zukunft. Für milde Amnesie und individuelle Entfaltung sorgt das Ministerium für gesellschaftliche Harmonie («Null Geburten, null Sterblichkeit»), der «Gesellschaftsschutz» hält seinen Daumen auf das Glück. Alles ist perfekt, alles ist falsch. Und draussen lockt, nicht nur für die Bedürfnisse des Romans, die Nonzone, das Niemandsland, die Steppe.

Dorthin zieht es Baikal und Kate ... doch gemach: Bevor wir uns der Rebellion zuwenden, bricht eine bizarre Erkenntnis herein. Kaum je stellt sich in diesem Roman das Gefühl ein, auf Zeitreise zu sein. Dieses Globalia ist heute, die Utopie ist jetzt. Vor unseren Augen entfaltet sich eher ein Befund als eine Erfindung, ein klarsichtiger und unerbittlicher freilich.

Vielleicht liegts an den beschleunigten Verhältnissen der gerade real stattfindenden Zeitenwende, dass die Zukunft auf uns zuzustürzen scheint. Wer möchte sich, bei echten Helden wie Otto Schily oder George Bush, mit den fiktiven Globalianern fremdtun, die Sätze sagen wie: «Kontrolle ist Freiheit» oder «Sicherheit ist Freiheit». Ulrich Beck, der Münchner Soziologe, hat seinen jüngsten Essay untertitelt: «Krieg ist Frieden».

Wer könnte sich, angesichts der seriellen Herstellung von Monstern à la Saddam, Bin Laden, Zarkawi über Rufins Einfall wundern, die Herren Globalias selbst für den Nachschub an Feinden und Terror sorgen zu lassen: «Bisher haben wir vorhandene Feinde gesucht, die wir dann aufgeblasen haben», sagt Altman, der Strippenzieher, in einer Sitzung des «Büros zur Identifizierung von Bedrohungen»: «In Wahrheit müssen wir genau das Gegenteil tun. Es geht nicht darum, einen Feind zu finden, sondern ihn zu erfinden. Von A bis Z zu erfinden. Das Problem also aus einer industriellen Perspektive anzugehen. Aufregend, nicht?» Zynisch-brutal instruiert Altman den positiven Helden, Baikal, in der Nonzone den Aufstand anzustacheln: «Wir sind in gewisser Weise die Opfer unseres Erfolges. Der Gesellschaftsschutz hat gut gearbeitet. Alles ist unter Kontrolle, und wir haben keinen Feind mehr, der diesen Namen verdiente ... Wo kann man heute noch hoffen, eine ernsthafte Bedrohung zu finden? Künftig müssen wir die Nonzonen stärken, hervorragende Männer hineinschicken, in der Hoffnung, dass sie die elenden Massen zusammenführen» - die Altman dann sogleich ausrotten wird. Dass sich Baikal, der Heisssporn ohne politische Vision, dafür nicht hergeben will, ist ihm egal - Hauptsache, er ist der gute neue Feind.

Kaum jemand wird die Analogie mit dem amerikanischen «Soft Imperialism» verkennen, wenn eine Leaderin der «Abgefallenen» draussen in der Nonzone die Entstehungsgeschichte Globalias nachzeichnet: zuerst die Trennung der reichen Gebiete im Norden und der Wohlstandsinseln im Süden vom Rest der Welt. Die Barbarisierung der Armen, um sie für die Gewalt Globalias zu öffnen. «In der ersten Zeit waren die Nonzonen systematischen Angriffen der Armee von Globalia ausgesetzt. Alles, was einem Staatsgebilde ähnelte, diente als Zielscheibe mit der Begründung, Terroristen könnten dort Unterschlupf finden. Anfänglich folgten auf diese Operationen mühsame Versuche, lokale Kräfte an die Macht zu bringen, die Globalia wohlgesinnt waren. Mit der Zeit erwiesen sich diese Bemühungen als zu kostspielig. Die bewaffneten Einfälle in den Nonzonen dienten bald nur noch dem Ziel, das Chaos aufrechtzuerhalten.»

Wo solches zu lesen gegeben wird, ist die Persönlichkeit des Autors von Belang. Jean-Christophe Rufin war Berater des französischen Verteidigungsministers, als Bomben in Paris explodierten, die der FIS, der Islamischen Heilsfront Algeriens, zugeschrieben wurden. Rufin ist nicht nur Literat, Arzt, Mitbegründer von Ärzte ohne Grenzen - vor zwölf Jahren hat er mit seinem Essay «Das Empire und die neuen Barbaren» die Weltkarte umgezeichnet und Autoren wie Toni Negri beflügelt. Das Buch machte weltweit Furore, zahlreiche Staatschefs suchten das Gespräch. Rufin war in Bürgerkriegen, Favelas, Hungersnöten. Er hat die «Ökonomie der Bürgerkriege» analysiert. «Die Liberale Diktatur». Hat kritisch mit der humanitären Hilfe abgerechnet - und leitet heute die NGO Action contre la Faim (ACF). Mitten im Genozid reiste er durch Ruanda, eine Geheimbotschaft der französischen Regierung für Rebellenführer Paul Kagame in der Tasche.

Figuren wie Rufin, 53, bringt nur Frankreich hervor. Zugleich politischer Akteur, Doktor und hochproduktiver Intellektueller, preisgekrönter Autor historischer Romane wie «Der Abessinier» oder «Rouge Brésil» , in Seuchencamps und in den Palästen der Republik gleichermassen zugange, wird er von Ministern um Rat gebeten - wie kürzlich mit einem Bericht zu Rassismus und Antisemitismus -, und doch zählt er sich selbst nicht zum politischen Boudoir. In Deutschland oder der Schweiz wären diese Rollenwechsel, dieser Appetit, diese Lebensführung verdächtig. Doch Rufin sucht die Tat, nicht die Scheinwerfer, die Frankreichs theatralischem Prêt-à-penser einziges Motiv sind, mit dem «Philosophen» Bernard-Henri Lévy und dem «Humanitären» Bernard Kouchner zuvorderst.

Jean-Christophe Rufin ist von anderer Statur. Er hätte auch diesmal einen Essay schreiben können. In mancherlei Hinsicht ist «Globalia», ohne zum Thesenroman zu verkommen, die Fortsetzung von «Das Empire und die neuen Barbaren». Die Überwindung der alten Schizophrenie - hier Essay, dort historischer Roman - habe ihn gereizt, sagt Rufin. Wer aber über eine kleine Neigung zu existenzialistischen Bonbons hinwegsehen kann, wird in der subversiven Wucht von «Globalia» eine andere Erklärung finden: Immer wieder dringt das Entsetzen durch, das den kundigen Weitgereisten befiel, als er die gegenwärtigen Entwicklungen unserer Gesellschaften weiterdachte. Oder, wie er selbst sagt, «eine bis an die Grenzen ihrer Gefahren getriebene Demokratie» auslotete. «Ich verspürte dasselbe Entsetzen wie Tocqueville, der am Ende seines Buches, nachdem er die amerikanischen Institutionen im 19. Jahrhundert genau beschrieben hat, die extremen Konsequenzen dieses neuen Systems ins Auge fasst.»

Der Essayist habe die Pflicht, Partei zu ergreifen, sagt Rufin, ein Essay rufe meist nach Handlungsvorschlägen. Dies zumindest erspart ihm der Roman. Ein kluger Kunstgriff: Gegen die Ordnung, die er aufziehen sieht, stünden ihm kaum einfache Anleitungen zu Gebote.

Die extremen Konsequenzen der Demokratie in «Globalia» sind, genau besehen, jene des späten Kapitalismus. Kein romaneskes Wort: Kapitalismus. Rufin benützt lieber den schwer übersetzbaren Euphemismus «Ordre marchand», was mit Marktordnung nur ungenau übertragen ist. Er war nie ein Linker, seine Begrifflichkeit scheut die Eindeutigkeit, die isoliert.

Interessanterweise aber greift sein Denken weiter als das sozialliberale Credo der sozialistischen Opposition. In diesem Mann ist viel Unerbittlichkeit, wenn er seine Figuren der globalisierten Ordnung aussetzt, wenn Harmonieberater, Spitzel, psychologische Formatierung, Biopolitik, Überwachung, Gedankenpolizei, der Newspeak («Anglobal») wüten. Puig, ein unbotmässiger Journalist, wird entlassen und unter Beobachtung gestellt - in Anglobal: «Seine Karriere erfuhr eine starke Beschleunigung.»

Stupend, wie Rufin alle Bruchstellen der gegenwärtigen Ordnung aufspürt. Formal herrscht in Globalia Demokratie. Praktisch bestimmt eine Art Verwaltungsrat der grössten Kapitalisten über das Unternehmen Globalia. Politik ist in ihren Händen privatisiert - eine ziemlich präzise Beschreibung gegenwärtiger Trends. Keiner leidet Not. Identitäten sind getilgt, durch «kulturelle Standardreferenzen» und künstliche Traditionen ersetzt. Diese Gesellschaft franst nicht am Rande aus, sie ist in einer permanenten Implosion begriffen. Harmonie und Individualismus sind die höchsten Güter. Infantilisierung ist Bürgerpflicht. Entmündigt, formatiert, von jeder kollektiven Zugehörigkeit befreit ausser jener zum System, das nur sich und nicht das andere kennt, ohne Geschichte und Horizont, ist unter der Glaskuppel das herangewachsen, was die französische Politologie seit ein paar Jahren das «negative Individuum» zu nennen beginnt.

So bleibt in den Gesichtern der Menschen, vom Nachfolger Altmans in der «gesicherten Zone» Schanghai beobachtet, ein «gähnendes Loch», ein ständiges Verlangen. «Ein abgrundtiefes Unbefriedigtsein verschlang alle Produkte, welche die Handelsmaschinerie anbieten konnte, ohne je gestillt zu werden. Globalia hatte das Grauen in gewisser Weise gegen alle gerichtet. Wer in anderen Zeiten Folterknecht gewesen wäre, quälte nur noch sich selbst, mit dem einzigen Instrument einer ins Unendliche gesteigerten Begierde, die ihn zermarterte.» Kurzum: «Das war zweifellos die beste aller möglichen Welten.»

Hier antwortet Rufin auf Toni Negris Bild von der Multitude und die These in «Empire», es gebe kein Aussen mehr. Anders als Negri, der in informellen Arbeitsformen und Beziehungen einen neuen, vermutlich besseren Menschen entstehen sieht, beharrt Rufin auf den Zerfallsprozessen der kapitalistischen Ordnung und ihrer zerstörerischen Wirkung auf das Subjekt. En passant, das erlaubt die Romanform, führt Rufin eine Korrektur seines Bildes vom Süden ein. In «Das Empire und die neuen Barbaren» war der Süden die barbarische Antithese zum Norden. Nun siedelt Rufin den Motor der Barbarei rabiat in Globalia an, im Herzen der Zivilisation.

Doch ein Thesenroman? Nein, aber die Geschichte von Baikal und Kate bleibt jenen vorbehalten, die «Globalia» lesen. Nur so viel: Am Ende reiten sie, lonesome two, in die Steppe hinaus. Vielleicht ist das Kitsch. Vielleicht ein Exodus. «In der Welt Globalias», schreibt Jean-Christophe Rufin im Nachwort, «hätte auch ich nur einen Wunsch: zu entkommen.»

Jean Christophe Rufin: Globalia. Kiepenheuer & Witsch. Köln 2005. 512 Seiten, Fr. 40.10