«Samarkand und andere Märkte»: Garstig-grimmige Hohelieder

Nr. 10 –

Nur selten wird afrikanische Lyrik übersetzt. Der neue Band von Wole Soyinka zeigt, was uns dadurch entgeht.

«Ich will mir alle Finger in den Hals stecken, / Demosthenes, / Galle zu spucken, um die Welt darin zu ersäufen.»

So weit hatte es Demosthenes, der griechische Rhetoriker, zwar nicht getrieben; er beliess es bei Kieseln im Mund, als er gegen die tosende Brandung seine Stimme übte. Wole Soyinka trainiert allerdings auch nicht für die Athener Volksversammlung, sondern streitet gegen Diktatoren, religiöse Eiferer und andere Übel der Gegenwart.

«Etwas Rattengift will ich mir auf die Zunge legen, / Demosthenes, / die Nager zu locken mit dem Todeskuss, / ihr Schicksal besiegeln.»

Energische Publizistik ...

Der 1934 geborene Nigerianer hat mit politischen Gegnern einschlägige Erfahrungen gemacht. In den sechziger Jahren erlitt Wole Soyinka mehr als zwei Jahre Isolationshaft wegen seines Engagements im Biafrakrieg. Mehrfach ging er ins Exil - und in die Offensive, seit 1986 mit dem Literaturnobelpreis im Rücken, dem ersten überhaupt für einen Afrikaner. Seine energische Publizistik gegen den nigerianischen Diktator Sani Abacha hat auch im Gedichtband «Samarkand und andere Märkte» Niederschlag gefunden. Immer wieder kreist er um seine Heimat - und sei es, um festzustellen, dass sie für ihn keine mehr ist. Wer Soyinkas autobiografischen Roman «Aké - Jahre der Kindheit» gelesen hat, wird in dem Gedicht «Turmuhr - wieder zu Besuch in Aké» bekannte Schauplätze wiederfinden. Aber die Zifferblätter der alten Turmuhr fehlen, dort klaffen jetzt «leere Höhlen», von Bronzeplatten versiegelt. Ohne alle Sentimentalität muss hier ein alternder, fremd gewordener Mann feststellen, dass ihm nicht nur die Realität Nigerias die Rückkehr unmöglich macht, sondern dass auch seine eigene Lebenszeit vergangen ist. Der Turm, «altersfleckig und doch alterslos», stösst nur noch in den «Erinnerungshimmel».

Im titelgebenden Langgedicht «Samarkand» führt der Weltbürger Soyinka in einem grossen Zirkelschlag ans andere Ende der islamischen Welt. Hier, in jener sagenhaften Handelsmetropole der Seidenstrasse, treffen sich Konjunkturlinien der Imperien unserer Jahrhunderte. Samarkand steht sinnbildlich für den Markt schlechthin, «eine gütige Zuflucht für die wandernde Seele», leibliche und seelische Bedürfnisse befriedigend. Samarkand steht aber auch für das Sowjetsystem, das bis nach Usbekistan reichte - die «Endstation der Parteilügen», mit einem Markt geprägt von den freudlosen «Gesichtern der ewigen Frauen», «schlaffes / Blattgemüse entgegenstreckend». Heute ist Samarkand zu einem Ort pervertiert, wo Ramsch verhökert wird, «damit die Familie nicht hungert». Und der vom radikalisierten Islam heimgesucht wird, der das Nebeneinander der Angebote nicht mehr dulden will, sondern nur noch die Alternative «heilig oder unrein» kennt. Wohin mit der Utopie von Samarkand, dem lebendigen Markt des Gleichberechtigten?

... gegen radikale Eiferer

Soyinka, erbitterter Gegner Allmacht heischender Ideologien, der den radikalen Eiferern jeder Couleur einen Zyklus garstig-grimmiger Hohelieder aufbrennt, bietet in diesem sehr diesseitsbezogenen Gedichtband eine überraschende Fülle lyrischer Themen. Mit dem frei fliessenden, rhythmischen Versmass (das sich in der Übersetzung leider nicht wiederfindet) und langen Strophen lehnt er sich an die traditionelle orale Literatur der afrikanischen Griots, der Geschichtensänger, an.

Dass ein Lyrikband komplett übersetzt wird, ist selbst schon ein Ereignis: Obwohl die afrikanische Literatur noch vor wenigen Jahrzehnten überwiegend aus Lyrik bestand und obwohl auch heute noch viele Prosaautoren zugleich Lyriker sind, gelangen fast nur Romane auf den deutschsprachigen Buchmarkt. Lyrik erscheint bestenfalls in Anthologien. Es ist aber gerade die Vielfalt der lyrischen Positionen und Themen dieses Bandes, die das einzelne Gedicht greifbar macht. Was uns an afrikanischer Lyrik entgeht, zeigt dieser Band in seiner geistigen Beweglichkeit und ästhetischen Qualität eindrücklich.

Wole Soyinka: Samarkand und andere Märkte. Ammann Verlag. Zürich 2004. 151 Seiten. Fr. 34.90