Medizingeschichte: Rumpfmenschen und Bartfrauen

Nr. 13 –

Der Historiker Urs Zürcher zeigt, wie die moderne Medizin sich der körperlichen Missbildungen bemächtigte.

«Sie kochen gerade Papa», beschied man einem Studenten, der 1803 in Berlin den Söhnen des verblichenen Philipp Friedrich Meckel einen Kondolenzbesuch abstatten wollte. Der Anatom, dessen Skelett eben zersägt, geraspelt und schliesslich gekocht wurde, hatte in seinem Testament verfügt: «Ich will durchaus nicht begraben sein und mache es den Meinigen zur unverbrüchlichen Pflicht, mich sezieren zu lassen. Mein Knochengerippe soll künstlich zusammengesetzt werden und einen eigenen Schrank zur Aufbewahrung erhalten.»

Zeugnis des Teufels

Die Meckels stehen im schönen Buch «Monster oder Laune der Natur» des Historikers Urs Zürcher beispielhaft für eine medizinwissenschaftliche Avantgarde, die seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert ihr Forschungsinteresse zunehmend in das Innere des menschlichen Körpers verlegte und diesen deshalb sezierte. Besondere Aufmerksamkeit galt dabei missgebildeten Menschenkörpern, die quasi gebändigt und als Gegenstand einer eigenen Disziplin etabliert wurden. Im Mittelalter und in der Frühneuzeit hatte man in «Missgeburten», die mythologisch besetzt waren und dem Wider- und Aussernatürlichen zugerechnet wurden, noch ein Zeugnis für sexuellen Verkehr mit dem Teufel und mit Tieren gesehen. Bahnbrechend für die «Entzauberung des Monstrums» war die Erkenntnis seines «naturgesetzlichen Wesens». Missbildungen verloren aus wissenschaftlicher Perspektive ihre Einzigartigkeit und wurden in umfangreichen Sammlungen konservierter Totgeburten oder Organe zu Objekten, deren Vergleich Aufschluss über normale physiologische Vorgänge zu geben versprach. Seit die Sektion in der pathologisch-anatomischen Forschung zum «erkenntnisschöpfenden Akt» schlechthin avanciert war und den «Objektraum» in das Körperinnere erweitert hatte, wurden Missbildungen als Spuren eines imaginären «Systems der Abweichungen» gedeutet, das sich auf alle menschlichen Körper ausstreckte.

Die 1855 skizzierte Zelltheorie des Pathologen Rudolf Virchow verlegte den Herd des Monströsen endgültig in den Mikrokosmos des Körperinneren, indem sie seine Entstehung auf gestörte Regulationsvorgänge im Zellenverband zurückführte. Das Monströse «entmaterialisierte» sich, verselbständigte sich gegenüber seinem Träger, dem missgebildeten Körper, und vermischte sich zusehends mit rassischen, hygienischen oder kriminalpolitischen Diskursen; missgebildete Menschen wurden als «Träger tierischer Zeichen» identifiziert. Eine körperliche Missbildung, etwa die verkehrte Anordnung der Eingeweide eines verstorbenen Häftlings, konnte nun das Korrelat seiner sittlichen Verkehrtheit sein, eine für pathologisch befundene Schädelform auf die Minderwertigkeit einer fremden Rasse verweisen.

Auf Welttournee

Doch auch die alltagsweltliche Wahrnehmung des Missgebildeten veränderte sich, wenngleich in entgegengesetzter Richtung: Lebendige Monstrositäten wurden in grellem Licht vorgeführt.

Urs Zürcher: Monster oder Laune der Natur. Medizin und die Lehre von den Missbildungen 1780-1914. Campus Verlag. Frankfurt am Main, New York 2004. 318 Seiten. Fr. 59.90