Orhan Pamuk: Kein Panorama

Nr. 18 –

Der türkische Schriftsteller hat mit «Schnee» einen grandios grotesken Roman geschrieben, der in den letzten Monaten von der realpolitischen Bühne übertroffen wurde.

Es gibt keinen türkischen Autor, der derzeit so gefeiert wird wie Orhan Pamuk. Von der «New York Times Book Review» bis zur «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» wird Lob für seinen jüngst auch auf Deutsch erschienenen Roman «Schnee» ausgeteilt. Hinzu kam in den vergangenen Monaten, dass der 52-jährige Literat zentrale Figur einer politischen Debatte wurde. Die Inszenierung der Schmierenkomödie begann in dem zentralanatolischen Provinznest Sütcüler in der Provinz Isparta: Der Landrat der Kleinstadt, Mustafa Altinpinar, ein Expolizist, wollte seiner Beamtenkarriere etwas Gutes antun. Mit populistischen Massnahmen wollte er Punkte sammeln, und Orhan Pamuk wurde als Feind auserkoren. Die öffentlichen Bibliotheken der Stadt wurden angewiesen, Bücher von Orhan Pamuk aus ihrem Bestand zu entfernen und zu «vernichten». Als Begründung führte der Landrat an, der Schriftsteller habe in Interviews mit ausländischen Zeitungen die «Ehre der türkischen Nation verletzt».

Tatsächlich war der Schriftsteller hart mit der politischen Kultur in der Türkei zu Gericht gegangen. In einem Interview mit dem Zürcher «Tages-Anzeiger» sagte er: «Man hat hier 30 000 Kurden umgebracht und eine Million Armenier. Und fast niemand traut sich, das zu erwähnen. Also mache ich es. Und dafür hassen sie mich.» Die türkischen Nationalisten reagierten mit einer Hetzkampagne gegen den Autor. Pamuk erhielt Schmähbriefe und sogar Morddrohungen. Er wurde als «Vaterlandsverräter» gebrandmarkt. Die Medien wurden Austragungsort einer erbitterten Debatte. Es gab viel Kritik an Pamuks Äusserungen. Doch auch die Zahl derjenigen, die in Kolumnen und Kommentaren Partei für ihn ergriffen, war nicht zu unterschätzen. In diese Debatte platzte die Nachricht von der Anordnung des Landrats, der in türkischen Medien alsbald als «Bücherverbrennungsbeamter» tituliert wurde. Ein Skandal war ausgebrochen und die Empörung gross. Der Gouverneur hob formell die Anordnung auf und sprach von Amtsanmassung. Das Innenministerium leitete ein Ermittlungsverfahren gegen den übereifrigen Landrat ein. Und selbst Nationalisten, die Orhan Pamuk in Grund und Boden verdammt hatten, wollten nicht mit Bücherverbrennern in einen Topf geworfen werden. Es erstaunt deshalb wenig, dass Orhan Pamuk nicht nur in der türkischen Presse, sondern auch international mehr im Politikteil als im Feuilleton wiederzufinden war.

«Schnee» erzählt die Geschichte des Dichters Ka, der nach zwölf Jahren Aufenthalt als politischer Flüchtling in Frankfurt und nach dem Tod seiner Mutter nach Istanbul zurückkehrt und im Auftrag einer türkischen Tageszeitung die mysteriösen Selbstmorde junger Frauen in der nordöstlichen Stadt Kars recherchieren soll. Er hat den Auftrag auch deshalb sofort angenommen, weil er hofft, in Kars seine Jugendliebe Ipek wiederzusehen. Nach Ankunft des Dichters wird Kars durch einen Schneesturm von der Aussenwelt abgeschnitten, und der Protagonist findet sich inmitten des turbulenten politischen Geschehens der Kleinstadt. Eine Bühneninszenierung über Aufklärung und Kopftuch transformiert sich in einen wirklichen Putsch, bei welchem die SchauspielerInnen gemeinsam mit ein paar machthungrigen Militärs die Macht in der Stadt an sich reissen und die Bevölkerung in Angst und Schrecken versetzen. In unzähligen Dialogen ergreifen die Figuren politisch Partei und legen ihre Ansichten dar - es geht um das Kopftuch, um KurdInnen, um den säkularen Staat, um die Positionierung der Türkei gegenüber Europa und dem Westen.

Durch die ganze Geschichte ziehen sich die Einsamkeit und das Gefühl von Fremdheit des Dichters Ka, der - in besten bürgerlichen Verhältnissen in Istanbul gross geworden - ein «Westler» ist und plötzlich ins Zentrum des rabiaten politischen Geschehens in Kars geraten ist. «Der noch dichter fallende Schnee erweckte in Ka wieder ein Gefühl von Einsamkeit; und diese Einsamkeit wurde begleitet von der Angst, dass das Ende der Verhältnisse, in denen er in Istanbul aufgewachsen war und gelebt hatte, ja überhaupt des verwestlichten Lebens in der Türkei gekommen sei.» Dabei hat Ka keine politischen Ambitionen, und sein Hauptziel ist es, Ipek, die Frau seiner Träume, nach Frankfurt mitzunehmen.

Pamuk, der Architektur studierte, konstruiert seinen Roman mit architektonischer Präzision. Doch «Schnee» ist auch ein irreführendes Buch. Denn Pamuk hat einen politischen Roman über die Türkei der neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts geschrieben. «Ich suchte nach einem Ort, wo ich ein kleines Modell der Türkei entwickeln kann», sagte er in einem Interview mit einer türkischen Zeitung nach Erscheinen des Buches im Jahr 2002. Doch so grossartig die Figuren in Pamuks Groteske agieren, so wenig sind sie geeignet, ein Panorama der politischen Kultur der Türkei zu entwerfen. Gerade das allerdings haben insbesondere westliche Medien von Pamuks Buch erwartet: Es gab gar RezensentInnen, die Pamuks Buch als Beweismittel anführen, dass die Türkei nicht in die Europäische Union gehöre.

Es ist eigenartig, aber wahr: Pamuks Buch liest sich besser auf Deutsch oder Englisch als auf Türkisch. Nicht nur wegen der besonderen Sperrigkeit des von Pamuk benutzten Türkisch, die sich dank Übersetzung und Lektorat in der deutschen Ausgabe nicht wiederfindet. Es ist vor allem die Erinnerung an die nahe Geschichte, die TürkInnen beim Lesen des Buches verwirrt, während die Türkei-Unkundigen die durchgeknallten Figuren der Erzählung geniessen können. Denn Pamuks Material für den Roman ist die politische Realität der Türkei, und für jeden Türken ist es ein Leichtes, die Anspielungen auf reale Figuren und Ereignisse zu verstehen. Doch weder islamistische Militante noch kemalistische Putschisten leben und reden in Realität so wie im Roman. Beispielhaft die militante, islamistische Kopftuchträgerin Kadife. Für eine gläubige Frau ist es Sünde, sich über Sternzeichen auszulassen. Doch Kadife stellt ungeniert «Theorien darüber auf, warum ein Zwillinge-Mann unweigerlich zu einer Jungfrau-Frau passt». Pamuks Figuren sind Stereotypen - wunderbar geeignet für die provokante, satirische Erzählung, doch ungeeignet, die politischen Konfliktlinien der türkischen Gesellschaft zu beschreiben.

Ist es nicht ein wenig dick aufgetragen, dass all die verrückten Figuren - ein Schauspieler und Putschist, der Bürgermeisterkandidat der islamischen Partei, der islamistische Terrorist, der Folterer und Todesschwadronist im Staatsauftrag - allesamt eine «linke, revolutionäre» Vergangenheit haben? Liest man «Schnee» als politischen Roman, verwundert es nicht, dass türkische KritikerInnen den Vorwurf des Eurozentrismus und des Orientalismus erhoben haben.

Doch Pamuk hat vorgesorgt. Nicht umsonst teilt eine Romanfigur am Ende dem Erzähler mit: «Wenn Sie mich in einem Roman vorkommen lassen, der in Kars spielt, dann möchte ich dem Leser sagen, er soll nichts von dem glauben, was Sie über mich, über uns alle geschrieben haben. Keiner kann uns aus der Ferne verstehen.»

Orhan Pamuk: Schnee. Hanser Verlag. München 2005. 513 Seiten. Fr. 46.20