Ruth Schweikert: Die Bedeutung der Erinnerung

Nr. 18 –

Mit «Ohio» legt die Schweizer Autorin einen Roman über Leben, Liebe und Katastrophen vor - in einer Sprache, die mitunter wie ein Stromschlag treffen kann.

Gäbe es einen Wettbewerb um den besten Anfang eines Romans oder einer Erzählung, Ruth Schweikert würde ihn auch mit «Ohio» wieder gewinnen: «‹Aber wie und womit hat es angefangen›, hatte Merete gesagt, und ihr Stimme war plötzlich weich geworden und dunkel wie früher manchmal.» Es ist die Nacht vom 15. auf den 16. Oktober 2001, Merete liegt neben ihrem Ehemann Andreas in einem Hotelbett in Durban, Südafrika. Nach neunjährigem Zusammensein ist dies ihr letztes Gespräch, bevor Andreas sich am Ende der Nacht im Meer ertränkt. Die beiden sehen sich noch einmal an, «für acht, neun, zehn, elf helle Herzschläge», und über diesen wunderbaren Zeilen liegt die ganze traurige Gegenwart der vergangenen Liebe. Die Frage nach dem Anfang vom Ende dieser Liebe treibt den Roman an. In einer ersten Schicht wird die Liebes- und Ehegeschichte von Merete und Andreas erzählt bis zu dem Punkt, an dem Merete sich in einen anderen Mann verliebt: «...und von da an waren die festgefügten Dinge in Meretes und Andreas’ Leben nacheinander explodiert, als wären sie alle an einer Zündschnur aufgereiht.» Andreas’ Vater stirbt, eines ihrer Kinder erleidet einen schweren Unfall, an dem sich Andreas schuldig fühlt und der Depression verfällt.

Die Frage nach dem Anfang fördert dann eine zweite und dritte Schicht zutage: die Geschichten der Eltern und Grosseltern, die nach Deutschland und Italien führen. Die Wirren von Flucht und Vertreibung Mitte der vierziger Jahre in Breslau haben Andreas’ Mutter Almut in ihrer Kindheit traumatisiert. Andreas’ Vater Michele, das Kind italienischer Gastarbeiter, ist ein schillernder Frauenheld, dessen grosse Liebe aber einem spanischen Mann gehört. Nur Meretes Geschichte hat keinen erkennbaren Anfang: Sie ist ein Findelkind, von ihrer Adoptivmutter, kurz nach dem Tod des eigenen Säuglings, in Durban auf der Strasse aufgelesen. Beiläufig elegant vermittelt der Roman auch das Porträt einer Generation und ein Stück Schweizer Geschichte: Merete und Andreas sind beide - wie die Autorin - 1965 geboren, in der Schweiz aufgewachsen und leben in Zürich.

Ruth Schweikert greift beim Erzählen in Raum und Zeit weit aus. Sie hat ihre Geschichten in kleine Splitter zerstückelt und nach den psychischen Gesetzen der Assoziation neu zusammengesetzt. Wörter oder Objekte, zum Beispiel ein Rucksack, setzen Erinnerungen und Rückblenden in Gang. Oft sind mehrere Szenen ineinander geschnitten, oder die Autorin arbeitet mit Überblendungen. So verschwimmen etwa die Erinnerungen einer Figur an Erzählungen der Mutter mit Filmbildern, die der Erinnernde gesehen hat. Dabei gerät der lineare Zeitablauf durcheinander, denn für den Erinnernden ist die Vergangenheit genau so präsent wie die Gegenwart. Die Bedeutung der Erinnerung ist in diesen Erzählungen sorgfältig herausgearbeitet. Es gibt Familien oder Ehen, die durch das erinnernde Erzählen der Beteiligten zusammengehalten werden. Almut und Michele dagegen bleiben zusammen, weil sie nicht reden - etwa über Micheles Homosexualität. Manche Menschen entwickeln Techniken des Vergessens, um quälende Erinnerungen loszuwerden. Auch über die Notwendigkeit, den «Zufall» sinngebend anzunehmen, räsonnieren die Figuren. Schliesslich geht es, wie immer beim Erinnern im Moment der Krise, um das Herausarbeiten von Mustern und Traditionen. Dabei tritt Beunruhigendes zutage: etwa die unbewusste, ahnungsvolle Vorwegnahme künftiger Katastrophen, als entspräche etwa der Tod eines Partners durchaus einem geheimen Wunsch. Überhaupt scheint ein enger Zusammenhang zwischen Katastrophe und Leben oder Liebe zu wirken. Merete und Andreas ziehen zusammen und zeugen ein Kind, unmittelbar nachdem sie miterleben mussten, wie eine Bekannte auf einer gemeinsamen Bergwanderung zu Tode kam. Die Ehe zwischen Michele und Almut wird gestiftet, weil Almut die traumatisierende Katastrophe ihrer Kindheit noch einmal als Schlafwandlerin durchlebt. Merete gar, das Findelkind, verdankt ihr Leben überhaupt dem Tod des leiblichen Kindes ihrer Adoptiveltern.

In fast jedem der zahlreichen Splitter erweisen sich die sprachlichen und erzählerischen Qualitäten, die Ruth Schweikert schon in ihrem Erzählband «Erdnüsse. Totschlagen» und dem Roman «Augen zu» offenbart hat. Sie ist eine Meisterin im plötzlichen Zuschlagen. Man liest und denkt, nun ja, das kennst du, Eheprobleme, Liebe, Tochter-Vater-Beziehung - und plötzlich kommt ein Bild oder eine sprachliche Fügung, so scharf und hart, so zugespitzt und rau, dass es einen trifft wie ein Stromschlag. Kaum eine zeitgenössische Prosa kann das plötzliche Aufwallen des Begehrens oder die unendlich traurigen Sehnsüchte eines mongoloiden Mädchens nach Liebe so unmittelbar, so direkt in Sprache und Bilder umsetzen wie die von Ruth Schweikert. Welche gedankliche Klarheit, immer wieder! Und auch: Wer kann schon, wie Schweikert es einmal tat, eine Erzählung mit einem Zitat von Walter Benjamin beginnen?

Was in «Ohio» nicht funktioniert, ist der Gesamtzusammenhang, die Grossform. Der Roman zerfällt. Die übergrosse Fülle an Geschichten, Geschichte und Reflexionen, an Situationen, Aktualitäten, historischen Ereignissen und Figuren verhindert, dass wesentliche Zusammenhänge, etwa die zwischen Katastrophe und Leben, wirklich entfaltet werden. Die Situation in Durban hält die Splitter nicht zusammen. Sie gibt erzählerisch zu wenig her und wirkt aufgesetzt. Die Informationen über Südafrika und über das Verhältnis von Schwarzen und Weissen bleiben der Geschichte von Merete und Andreas äusserlich.

Bezeichnend das Bild, das Schweikert für ihr ästhetisches Verfahren gibt. Merete, gelernte Kunsthistorikerin, berichtet von Paul Klee, der einige seiner Bilder zerschnitten hat. Wie er sie neu zusammensetzte, darüber schweigt sie - hier aber liegt das Problem, man vermisst die zwingende Notwendigkeit der Übergänge. Um ein starkes Gegenbeispiel zu nehmen: Auch Antonio Lobo Antunes erzählt assoziativ, versammelt auf engem Raum eine Unmenge von Schauplätzen und Zeiten - aber er erzählt im Fieber des psychischen Zwanges, der Leser, die Leserin wird mitgerissen von einem unwiderstehlichen Sog.

Genau das fehlt bei Schweikert. Der Roman ist nicht nur konstruiert, er wirkt auch so. Und dennoch: Was im Detail an Sprache, Bildern und Gedanken aufblitzt, gibt menschlichen Erfahrungen Gestalt. Wer diesen Roman gelesen hat, wird über sich nachdenken.

Ruth Schweikert: Ohio. Ammann Verlag. Zürich 2005. 220 Seiten. Fr. 34.90