Christine Fischer: Liebe ist teilbar

Nr. 24 –

In ihrem neuen Buch befragt die St. Galler Schriftstellerin andere Möglichkeiten des Älterwerdens.

Als er doch einmal zu ihr aufschaut, blickt sie in einen tiefen und leeren Abgrund: «Ganz unten steht ein tausendjähriges schwarzes Wasser, in dem nichts mehr sich spiegelt.» Das sind die Augen von Alice’ Ehemann Arthur, mit dem sie um 1968, noch vor der Heirat, zwei Jahre in Berlin Kreuzberg gelebt hat. Damals wurde er wegen seiner geschmeidigen Bewegungen «auf der Flucht vor den Bullen» Gepard genannt, in den achtziger Jahren war er dann als Friedensaktivist unterwegs, und immer sass er hinter seinen Büchern. Letzthin hat Alice ihre Erinnerung an diesen Arthur verteidigt, indem sie die Pflegeleiterin im Heim davon überzeugte, dass man ihm den Rossschwanz nicht abschneiden dürfe.

Arthur ist dement. Der Blick in seine leeren Augen ist die kleine grosse Tragödie im Zentrum der Erzählung «Vögel, die mit Wolken reisen». Der St. Galler Autorin Christine Fischer genügen darin einige Nachmittags- und Abendstunden eines einzigen Tages, um die Welt einer alternden Frau zu entwerfen.

Punkt 13.20 Uhr steht Alice am Bahnhof und beobachtet die Einfahrt des Intercityzugs aus München. Sie wartet auf Leo, obschon sie weiss, dass er nicht im Zug sitzt. Sie hat ja zu ihm gesagt: «Geh, und komm nicht wieder», als er letzthin ihren Mann, seinen alten Freund, im Pflegeheim besucht hat, danach ihr Liebhaber wurde und zu ihr sagte: «Liebe ist teilbar.» Vom Bahnhof macht Alice sich zu Fuss und per Bus auf den Weg ins Pflegeheim, beladen mit einer Tasche voll von Arthurs Büchern, obschon sie weiss, dass sie ihn auch damit nicht mehr in ihre Welt zurückholen wird.

Auf ihrem Weg kommt sie am Kiosk vorbei, den sie mit zwei jüngeren Kolleginnen betreibt. Sie wird ungeduldig empfangen und merkt erst jetzt, dass sie ihre nachmittägliche Schicht vergessen hat. Sie löst ihre Kollegin ab, schliesst den Kiosk aber kurz darauf, um Arthur im Pflegeheim pflichtbewusst doch noch zu besuchen. Auf die Bücher reagiert dieser wie erwartet nicht, und der Versuch, ihren Mann aus der Umnachtung zurückzuholen, gipfelt in einem vagen Gegeneinanderlehnen, das sie als Umarmung missverstehen möchte. Im nächsten Moment zerschellt «ihr schelmischer Blick (...) an Arthurs Maske aus Stein».

Christine Fischer begleitet ihre Protagonistin danach durch die Stadt zurück nach Hause, lässt sie ein Bad nehmen, den Telefonbeantworter abhören, auf dem Leos Stimme sagt, dass Intercityzüge auch in die Gegenrichtung fahren, und schliesslich ins Bett steigen mit dem Gedanken, die Liebe sei «eine weisse Wolke mit gleissenden Rändern, genau wie der Tod».

Wenn es stimmt, dass schreiben kann, wer wenig Stoff braucht, um alles zu sagen, was eine Geschichte ganz macht, dann kann Christine Fischer schreiben. Nach vier Romanen («Eisland», 1992, «Lange Zeit», 1994, «Augenstille», 1999, und «Solo für vier Stimmen», 2003) hat sie zum ersten Mal die kleinere Form der Erzählung gewählt und einen Text aus einem Guss geschrieben. Sie gestaltet Alice’ Stationenweg in ruhig fliessenden, eleganten Langsätzen, die Raum lassen für den Widerspruch, mit dem die Protagonistin in einem Wechselbad der Gefühle kämpft: zwischen den Ehepflichten und Schuldgefühlen gegenüber dem unerreichbar gewordenen Ehemann einerseits und Leos Stimme auf dem Telefonbeantworter, die ironisch bibelfest sagt, die Liebe sei «ein Korb mit fünf Broten und zwei Fischen, der nie zur Neige geht». Unglück kenne keine Mehrzahl, konstatiert Alice einmal. Glück allerdings auch nicht.

So unaufdringlich wie bestimmt stellt Christine Fischer mit ihrer Geschichte die Frage, mit der sich in diesen Jahren die 68er-Generation konkret konfrontiert sieht: Wie willst du alt werden? Die Generation, die wie wohl keine andere das Bild des Jungseins verändert hat, steht heute vor der Frage nach anderen Möglichkeiten des Älterwerdens. Alice’ Wissen könnte weiterhelfen: Die Gewichte zwischen pflichtbewusstem Absterben und den Verlockungen immer neuer Lebenslust könnten ganz anders verteilt werden. Es gibt eigentlich nur ein Hindernis: «Ich fürchte mich namenlos vor dieser Veränderung.» Diesen Satz von Rainer Maria Rilke hat Christine Fischer als Motto über ihre Erzählung gesetzt.

Christine Fischer: Vögel, die mit Wolken reisen. Appenzeller Verlag. Herisau 2005. 114 Seiten. 34 Franken