David Bezmozgis: Übermut und Melancholie

Nr. 24 –

In seinem ersten Erzählband «Natascha» berichtet der kanadische Autor von den sprachlichen Tücken der Migration.

Wer auswandert, hat in der Regel wenig Gepäck. Das einzig Verlässliche, was die ImmigrantInnen in die neue Heimat mitnehmen, ist ihre Sprache. Mit ihr ziehen sie von Land zu Land, von Stadt zu Stadt, von einem Quartier in ein anderes, überall ihre Spuren hinterlassend. Manchmal entstehen dabei «sprachverunsicherte Zonen» wie im französischen Teil Kanadas, wo sich nicht nur zwei Landessprachen durchdringen, sondern auch viele andere fremdsprachliche Einflüsse wirksam werden. Der im vergangenen Sommer verstorbene WOZ-Autor Lothar Baier hat vor zehn Jahren diesen nach Edouard Glissant genannten «Zeitstränden» einen brillanten Essayband («Ostwestpassagen», Kunstmann-Verlag) gewidmet, in dem er auch die kanadischen «Sprachdramen» nachzeichnete. Sein von ihm selbst so genannter «Bummel» durch Montreal und Quebec, durch Lwiw (Lemberg) und Tscherniwzi (Czernowitz) kommt zum überraschenden Ergebnis, dass Sprache nicht unbedingt zur nationalen Identitätsstiftung taugt.

Sprachdrama

Von einem solchen «Sprachdrama» handelt auch das Erzähldebüt des kanadischen Autors David Bezmozgis, der 1980 als Siebenjähriger mit seiner Familie vom damals noch sowjetischen Riga in Toronto ankommt und in Gestalt von Mark Berman seine Geschichte erzählt. Mit allen nötigen Papieren versehen, hätte es statt Toronto auch Israel sein können, doch in Wien trennt sich die Grossfamilie. Grossvater Berman (väterlicherseits) - sein Lebtag Zionist - besteigt mit seiner Frau eine El-Al-Maschine nach Israel, weil er dort, «umgeben von 150 Millionen zornigen Arabern, zumindest weiss, wer der Feind ist». Eben diese «150 Millionen zornigen Araber» indessen sind für Marks Familie der Grund, sich in Richtung Kanada zu verabschieden.

Marks erste Freundin in Toronto heisst Tapka. Die weisse Lhasa-Hündin hat den Vorteil, dass sie sich international verständigen kann. Während Marks Eltern und Tapkas Herrchen sich mühselig durch die obligatorischen Sprachkurse quälen, erproben Mark und seine Cousine Jana an der verhätschelten Hündin «Liebesbeweise». Sie lassen das Tier trotz aller Ermahnung frei laufen, denn «sie haben eine elementare Wahrheit erkannt: Liebe braucht keine Leine.» Eine Lektion fürs Leben, die Marks späteren Umgang mit Natascha, die den Storys den Namen leiht, prägen wird.

Erinnerungskitsch

Wirklichkeit und Wahrheit, lernt Mark im Umgang mit Tapka frühzeitig, sind nämlich zweierlei. «In Wirklichkeit» überlebt Tapka den schrecklichen, von den Kindern provozierten Unfall; doch «in Wahrheit» hat Mark Schuld daran, dass sich die beiden willkürlich zusammengewürfelten, Russisch sprechenden Immigrantenfamilien aus den Augen verlieren. Marks Vater, in Lettland einst anerkannter Sportfunktionär und Trainer des legendären Leichtgewichtboxers Sergej, arbeitet in einer Schokoladenfabrik und hofft, «durch Kontakte» irgendwann seinen neu gegründeten Massagesalon auf die Beine zu kriegen. Sogar ein Rabbi wird in den Werbefeldzug mit einbezogen, was wiederum den Sohn beschämt. Die sprachgewandtere Mutter schwankt zwischen Euphorie und AuswanderInnendepression - da kann sogar ein höflich abgelehnter Apfelkuchen zum himmlischen Zeichen werden.

Vorerst jedoch wird die gesellschaftliche Position an der Behausung gemessen: «Zwischen unserer Wohnung im Wohnblock und einem Einfamilienhaus lagen noch das Reihenhaus und die Doppelhaushälfte. Keiner von unseren Bekannten hatte es auch nur bis zu einem Reihenhaus gebracht.» Allmählich gelingt der Familie dann doch der Aufstieg ins Reihenhaus, unter reger Anteilnahme der weitverzweigten jüdischen Verwandtschaft, zu der auch Sina und deren Tochter Natascha gehören.

Zunächst jedoch besucht Mark wider Willen noch die jüdische Schule und «lernt, was es heisst, ein Jude zu sein». Die Erzählung, in deren Mittelpunkt die Feier des Holocausttages steht, ist eine bitterböse Persiflage auf den «Erinnerungskitsch» und gleichzeitig eine schwarzhumorige Demonstration «jüdischen Selbsthasses» (Bezmozgis). Doch Marks Initiation ins Erwachsenenleben verläuft weniger über die jüdische Tradition, sondern «ganz normal» durch die kiffende und dealende Peergroup und Natascha, die ihn von Jobsuche und sexuellem Notstand erlöst. Die verwilderte Vierzehnjährige, die wie eine Hure lebt, sich aber nicht so fühlt, lehrt Mark, dass Gefühle nicht versicherbar, die Möglichkeiten männlicher Revanche begrenzt sind, und, wer nicht ewig ein Höhlendasein fristen will, sich eine «neue Identität zimmern» muss. So durchleidet Mark seine juvenilen Metamorphosen und wird allmählich erwachsen.

Leerstellen

Die beiden letzten Erzählungen schliesslich handeln vom Tod der Grossmutter und des Grossvaters auf der Suche nach einem neuen Domizil. Sie sind eine Liebeserklärung an die jüdische Familie und den ersten jüdisch-amerikanischen Boxchampion Joe Choynski. Umwerfend komisch die Szene, als Mark nach dem Begräbnis der Grossmutter deren neues, vergessenes Gebiss beerdigen will und am Ende in Panik gerät, es im Schnee zu verlieren. Und Salmans Suche nach zehn alten Männern für den Minjan, die jüdische Betgemeinde, beschreibt die Tragödie der dem Untergang geweihten jüdischen Tradition. Hier, im jüdischen Altersheim, treffen sich die alten Juden aller Länder wieder: Herschel spricht Englisch mit Mark, Itzig Russisch, und untereinander sprechen sie Jiddisch. Verunsicherte Sprachzonen en miniature. In diesen Leerstellen zwischen den Sprachen und Kulturen hat David Bezmozgis seine Erzählungen angesiedelt, teils mit dem Übermut des Einwanderers und manchmal mit der Melancholie dessen, der weiss, dass er etwas verloren hat.

David Bezmozgis: Natascha. Kiepenheuer & Witsch. Köln 2005. 186 Seiten. Fr. 30.10