Die Falle des Fortschritts: Zweckmässig ist sinnlos

Nr. 24 –

Ein Buch zeigt, warum die gegenwärtige Gesellschaftsordnung zerstörerisch ist - und was dagegen zu tun wäre.

Das Unbehagen ist da. Es hängt über den Diskussionen zu Sicherheit, zu Fortpflanzungsmedizin und Elektrosmog. Es versteckt sich in übervollen Terminkalendern und perfekten Ferienplänen. Auch die Statistiken über Antidepressiva und Ritalin verursachen Unbehagen. Über Umweltzerstörung redet lieber schon gar niemand mehr. Auch Versprechen von Arbeit für alle und ewigem Wirtschaftswachstum beseitigen das Unbehagen nicht. Es liegt tiefer.

Das Buch «Entgrenzte Welten» des Ehepaars Werner Bätzing und Evelyn Hanzig Bätzing geht den Gründen für dieses Unbehagen von ganz verschiedenen Seiten nach. Der Geograf Werner Bätzing, wohl der profundeste Kenner und Erforscher des Alpenraums überhaupt, und Evelyn Hanzig Bätzing, Dozentin für Philosophie und Psychoanalyse, haben das Buch gemeinsam geschrieben. Die ungewöhnliche Zusammenarbeit zwischen den Fachgebieten lohnt sich. «Entgrenzte Welten» ist ein wichtiges Buch geworden, das nicht immer einfach zu lesen ist.

Was passiert hier eigentlich, in den spätkapitalistischen Dienstleistungsgesellschaften? Was machen die Menschen mit sich selbst, und was machen sie mit dem Raum, in dem sie leben? Auf welchem Weg sind wir hierher gekommen? Werner Bätzing zeichnet die historische Entwicklung nach, die zur heutigen Wirtschaftsordnung führt, Evelyn Hanzig Bätzing beschreibt die Bedeutung der philosophischen Entwicklung für die Gegenwart; weitere Kapitel handeln vom Umgang mit Natur und Raum (Bätzing), mit Identität, Körper, Kindheit und Alter sowie mit Gesundheit und Krankheit (Hanzig Bätzing). Das Schlusskapitel haben die beiden gemeinsam geschrieben.

Als dominierendes Denkmuster der Gegenwart orten Bätzing und Hanzig Bätzing die «Annahme, dass sich die Wirklichkeit dem Menschen vollständig erschliesst, dass die Welt restlos in den Griff zu bekommen und damit alles verfügbar, konsumierbar und beherrschbar ist». Diese Entwicklung beginnt bereits im klassischen Griechenland mit der Entstehung der systematischen Logik, des «tertium non datur»: «Etwas ist entweder richtig oder falsch, eine dritte Möglichkeit gibt es grundsätzlich nicht - die Mehrdeutigkeiten, die für die Alltagsrealitäten so charakteristisch sind, werden aufgelöst.»

Zu diesem Denken, das die eigene Erfahrung dem rationalen Prinzip unterordnet und in der Renaissance einen neuen Aufschwung erlebt, kommt mit der Industrialisierung ein wichtiger Faktor hinzu: die Kapitalvermehrung als Selbstzweck. Ein Unternehmen muss wachsen, damit sich die Investition lohnt, und laufend neue Märkte erschliessen. Mit den wachsenden technischen Möglichkeiten wird immer mehr «konsumierbar und beherrschbar»: Das zweckrationale, wirtschaftliche Denken erfasst alle Lebensbereiche und auch die Identitäten und Körper der Menschen selbst. Alles wird zur Ware und scheint unmittelbar verfügbar.

Die sinnliche Erfahrung, dass in der Welt eben nichts einfach verfügbar ist, geht in der Dienstleistungsgesellschaft immer mehr verloren: «Ein Produkt, zum Beispiel ein Brot, zu kaufen, bedeutet, es sofort essen zu können; dagegen ist die Herstellung eines Brotes zum Zweck des Essens ein langwieriger Prozess. (...) Der städtische Brotkäufer nimmt das Brot in seiner unmittelbaren Existenz als Objekt und als Ware als selbstverständlich und vorgegeben hin; der Bauer dagegen erinnert sich beim Essen an die konkrete Arbeit, die in diesem Brot steckt.» Diese scheinbare Verfügbarkeit betrifft jedoch nicht nur Waren, sondern inzwischen auch Ferienreisen, Lebensentwürfe oder Beziehungen.

Wie sich das Innenleben und die Beziehungen der Menschen in einer solchen Gesellschaft verändern, untersucht Evelyn Hanzig Bätzing. Der Befund ist verheerend. An verschiedenen Beispielen zeigt die Autorin, dass die heutigen Anforderungen - grenzenlose Flexibilität, Zweckbeziehungen, dauernde freiwillige Selbstoptimierung - mündigen Menschen zuwiderlaufen. Psychisches Leiden wird oft als eine Art Maschinendefekt betrachtet, der mit der richtigen Chemikalie zu reparieren ist. So unzeitgemäss sie wirkt, so wichtig ist die Gegenposition von Hanzig Bätzing: Krankheit als Reaktion auf eine krank machende Umgebung. Hyperaktivität ist für die Autorin «eine gesunde psychische Reaktion der lebendigen Innenwelt des Kindes auf eine bloss noch passiv erlebbare Lebenswelt».

Ein Kernpunkt der Analyse ist das Zerfallen der Gesellschaft in Teilsysteme: Wirtschaft, Politik, Wissenschaft und so weiter dienen heute immer weniger einem «Gesamtwohl», sondern verselbständigen sich; ihre Weiterentwicklung wird zum Selbstzweck. Wenn ein Teilsystem wie die Wirtschaft das Ganze zu dominieren versucht, führt das zu grossen Problemen, «weil der wirtschaftliche Selbstzweck allein das Funktionieren einer Gesellschaft gar nicht gewährleisten kann». Es entsteht eine kalte, sterile Welt, die sich gegen die Menschen selbst richtet. Das zweckrationale Handeln, zum Selbstzweck geworden, ist zerstörerisch.

So schlägt der «Fortschritt», der (zumindest in den reichen Ländern) das Leben der Menschen tatsächlich sicherer, bequemer und länger gemacht hat, immer mehr in sein Gegenteil um: Das riesige Angebot an Waren und Dienstleistungen führt nicht zu mehr Zufriedenheit, sondern zu Überforderung und zum Gefühl, dauernd etwas zu verpassen. Schnellere Verkehrsverbindungen führen nicht zu mehr Zeit für Musse, sondern zu einer grossflächigen Zerstörung der Landschaft. Und so weiter.

Die Entwicklung, die hierher geführt hat, ist nicht zwangsläufig, kein Naturgesetz, betonen Bätzing und Hanzig Bätzing. Sie ist das Ergebnis von verschiedenen, zum Teil auch widersprüchlichen und zufälligen Faktoren. Es muss nicht immer so weitergehen. Der Weg «hinaus» in etwas Neues führt laut den AutorInnen über die Erkenntnis, dass die Welt nie vollständig erkennbar und verfügbar sein kann.

Was die beiden vorschlagen, ist nicht die Rückkehr in eine vormoderne, unaufgeklärte Welt. Im Gegenteil: Es ist ein Weg, der den Menschen ermöglichen könnte, Verantwortung für ihr Handeln und ihre Umwelt wahrzunehmen - statt wie heute einem Selbstzwecksystem zu folgen, das die Welt immer mehr zerstört. «Ob das Machbare auch sinnvoll ist für den Menschen, entscheidet sich demnach mit der Frage, wie und als was der Mensch darin vorkommt, und ob und inwieweit es einen Handlungsspielraum gibt, sich ihm zu entziehen, zu verweigern, ob darin eine selbstbewusste Lebensführung möglich ist.» Reformvorschläge bieten sie nicht an - «... solange Kritik gegenüber den bestehenden Verhältnissen bloss auf deren Bestätigung hinausläuft, bleibt nur, sich ihnen zu verweigern.» - «Denn mit der Verweigerung entstünde eine Unterbrechung des permanenten Reproduzierens von Vorgegebenem, des blinden, bewusstlosen alltäglichen Funktionierens.»

Evelyn Hanzig Bätzing und Werner Bätzing: Entgrenzte Welten. Die Verdrängung des Menschen durch Fortschritt und Freiheit. Rotpunktverlag. Zürich 2005. 496 Seiten. 42 Franken