«Like a Rolling Stone»: Auf ins gelobte Land

Nr. 26 –

Im Buch «Die Biographie eines Songs» erzählt der Poptheoretiker Greil Marcus, wie sich Bob Dylans legendäre Rock-’n’-Roll-Single durch die Zeit bewegt hat.

Der Kalifornier Greil Marcus gilt seit über dreissig Jahren als bedeutender Analytiker der Popmusik. In seinen Texten macht er Momentaufnahmen der Popgeschichte zum Ausgangspunkt eigenwilligen Spekulierens und Imaginierens. In «Lipstick Traces» (1989) verknüpft er den gleichnamigen Popsong über verräterische Lippenstiftspuren mit der Suche nach Spuren des Dadaismus und Situationismus im späten zwanzigsten Jahrhundert. In «Basement Blues - Bob Dylan und das alte, unheimliche Amerika» (1998) gräbt er in der Vergangenheit und benutzt Dylan-Songs quasi als Spaten. Seine jahrzehntelange Beschäftigung mit Dylan prädestiniert Marcus dazu, die Biografie von dessen berühmtestem Stück zu schreiben. «Die Biographie eines Songs» ist der treffende Untertitel seines neuen Buchs, der Song dazu ist «Like a Rolling Stone». Im Frühjahr 2005 wurde er von einer prominent besetzten Jury zum grössten Rocksong aller Zeiten gekürt. Die Aufnahmen zu diesem Jahrhunderttitel begannen am 15. Juni 1965 in den New Yorker Columbia Studios. Vier Tage danach wurde Marcus zwanzig, feierte also gerade seinen 60. Geburtstag.

WOZ: Warum schreiben Sie im Jahr 2005 ein Buch über einen Song von 1965? Bedienen Sie damit nicht eine, wie Jello Biafra es einst formulierte, «nostalgia for an age that never existed»?

Greil Marcus: Ja, Nostalgie ist die Sehnsucht nach einer idealisierten Vergangenheit, die nie existiert hat. Manche mögen so über mein Buch denken, ich nicht. Das Buch ist kein Vehikel für Nostalgie. Es erzählt, wie sich «Like a Rolling Stone» durch die Zeit bewegt hat. Wenn du den Song hörst, dann hörst du nicht 1965. Es wirft dich in die Gegenwart!

Gut, werfen wir uns in die Gegenwart. Angenommen, ein unbekannter Künstler bietet «Like a Rolling Stone» heute einer Plattenfirma an? Was passiert?

Das kommt auf die Plattenfirma an. Manche würden fragen: Was in aller Welt ist das? Ein toller Song, aber was sollen wir damit tun? Wie können wir ihn rausbringen? Im Übrigen wurde «Like a Rolling Stone» nicht einfach so auf einer Kassette eingeschickt. Dylan war einer der wichtigsten Künstler bei Columbia, er ging ins Studio und versuchte, den Durchbruch ins Top-40-Radio zu schaffen. Als er rauskam mit dieser Sechs-Minuten-Single, war es das Letzte, was sie haben wollten. Sie wollten keine Sechs-Minuten-Single veröffentlichen. Das sieht man schon daran, dass sie die Single teilten, eine Hälfte auf der A-Seite, die andere auf der B-Seite, damit die Radiostationen nicht den ganzen Song spielen mussten. Ausserdem hatten sie Angst, dass dann plötzlich alle Sechs-Minuten-Singles machen.

Was würden die Radiostationen heute mit dem Song anfangen?

Das Radio in den USA ist durchformatiert. Es wird diktiert von demografischen Daten. Ein Radio für weisse Männer von 18 bis 34, eins für junge schwarze Hörer, eins für schwarze Hörer mittleren Alters, eins für Leute in ihren Vierzigern, Classic Rock. Alles ist durchorganisiert, sogar die Countrymusik hat «young country», «new country» und «hard country». Also wäre die Frage: In welches Format passt dieser Song? Und schon wäre man verloren.

Heute gilt: keine Single ohne Videoclip. Wie sieht das Video zu «Like a Rolling Stone» aus?

Ich würde es eröffnen mit der Szene aus dem Indiana-Jones-Film «Jäger des verlorenen Schatzes», in der Harrison Ford in der Höhle die Statue vom Sockel entfernt, und dann kommt dieser riesige runde Felsblock auf ihn zugerollt und verfolgt ihn durch den Tunnel. Hier kommt ein Rolling Stone! Das würde die Leute irritieren.

Was ist so einzigartig an «Like a Rolling Stone»?

Ein Song, über den die Leute reden, muss etwas Dramatisches am Anfang haben. «Rolling Stone» hat diesen Donnerschlag von einem Drumbeat, der sagt: Passt auf, hier passiert gleich was! Wenn das passiert, dann drehst du dich um und sagst: Was war das?

Wo haben Sie «Rolling Stone» zum ersten Mal gehört?

In Kalifornien im August 1965 lief es dauernd im Radio, und die DJs sagten: «Das war Teil eins von Bob Dylans toller neuer Single ‹Like a Rolling Stone›, bleiben Sie dran, in der nächsten Stunde spielen wir den zweiten Teil!» Ich war unglaublich frustriert, als sie den Song mittendrin stoppten, ganz abrupt nach dem Beginn der dritten Strophe.

Wie ein Cliffhanger im Fernsehen?

Exakt! Um dir zu sagen, da kommt noch mehr!

So funktioniert der zweigeteilte Song im Sinne des Formats und der Werbepausen. Und Teil eins dient als Lockvogel für Teil zwei.

Entweder war es ein Fehler, oder es war brillant!

Sie zitieren den Kritiker Robert Ray, der behauptet, Bob Dylans Stimme sei für seine Wirkung wichtiger als seine Texte. Warum?

Bob Dylans Stimme hat mehr an der Vorstellung der Menschen von der Welt verändert als seine politischen Botschaften. Wenn es so eine Stimme ins Radio schafft, dann werden plötzlich eine Menge Leute gehört, die bis dato kein Gehör fanden. Bis Dylan kam, musste man auf eine bestimmte Art reden, damit jemand zuhörte. Das für sich genommen ist schon eine tiefere politische Botschaft als jeder Protestsong. So ähnlich wie die Tatsache, dass Barbra Streisand ein Star werden konnte ohne eine Nasenoperation.

Sie deuten eine unmögliche Stimme wie die Bob Dylans im Radio als Symptom für eine demokratische Ermächtigung. Haben Sie das Buch deswegen «dem Radio» gewidmet?

Es war der Ort, wo ich «Rolling Stone» gehört habe. Nicht nur 1965, als das Radio dieses grosse demokratische Instrument zu sein schien. Wann immer du eingeschaltet hast, hörtest du etwas, worauf du nicht vorbereitet warst. Vierzig Jahre lang habe ich «Rolling Stone» im Radio gehört, wenn ich es eben nicht erwartet habe! Egal ob ich mittenrein schalte oder es von Anfang an höre, es ist immer dasselbe: Was ich gerade tue oder denke, es verschwindet, und ich bin in der Welt dieses Songs.

Wie wurde das Radio zu einem «demokratischen Instrument»?

Als Rock ’n’ Roll aufkam in den Fünfzigern, wurde das Top-40-Radio erfunden, um Platz zu haben für all die neue Musik, die nicht reinpasste in die engen Formate. Im Top-40-Radio konnte man alle Arten von Musik hören. 1955 kamen plötzlich diese seltsamen Stimmen aus dem Radio. Wenn man das erste Mal Little Richard hört, dann ist das wirklich seltsam. Wenn du etwas zu sagen hattest, und du sagtest es auf deine eigene Art, dann konntest du plötzlich Gehör finden, egal ob Mann oder Frau, schwarz oder weiss, amerikanisch oder britisch. Aber: Zur selben Zeit, als du die neuen Stimmen hörtest, bekamst du auch schrecklichen Quatsch zu hören, das ist das Wesen von Popradio.

Das Top-40-Radio war also in den Sechzigern ein kultureller Schmelztiegel, während im richtigen Leben, vor allem im Süden der USA, die Rassentrennung noch lange nicht überwunden war. Ist es nicht paradox, dass wir heute, wo die Segregation zumindest auf dem Papier aufgehoben ist, eine kulturelle und mediale Segregation erleben? Nach den gängigen Zuschreibungen hören Weisse Rock und Country, Schwarze hören R & B und Hip-Hop, entsprechend eindimensional ist das Programm der Radiostationen ...

In einigen Bereichen ist die US-Gesellschaft heute viel weniger segregiert als vor vierzig Jahren. 1965 beschäftigte die Bank of America generell keine Schwarzen, mit Ausnahme der Hausmeister. Es gab keine schwarzen Menschen in öffentlich sichtbaren Funktionen. Keinen einzigen schwarzen Kassierer bei der Bank of America, und das war das grösste Unternehmen in ganz Kalifornien. Das war keine Frage des Gesetzes, das war ihre Idee von einem guten Geschäft. Heute ist die Vorstellung einer rein weissen Belegschaft bei der Bank of America absurd. In Fragen kultureller Sichtbarkeit hat sich viel verändert. Werbespots im Fernsehen sind weniger segregiert als das wirkliche amerikanische Leben. Sie zeigen immer eine attraktive schwarze Person neben einer attraktiven weissen Person. Andererseits ist das amerikanische Leben sehr viel segregierter als etwa vor zwanzig Jahren. Die schiere Vorstellung von Integration klingt antik, das Wort selbst wird nicht mehr verwendet. Schwarze Kultur in ihrer sichtbarsten Form - Hip-Hop - sagt: Wir wollen mit weisser Kultur nichts zu tun haben, wir wollen bloss euer Geld. Dann gibt es die Theorie, dass schwarze Schüler in rein schwarzen Schulen mehr lernen. Die Resegregation findet statt. In den meisten grossen Städten sind die öffentlichen Schulen ganz oder überwiegend schwarz. Die Klassenunterschiede wachsen, die Schere zwischen Arm und Reich öffnet sich immer weiter. Heute ist es für viele Leute akzeptabel, nicht in öffentliche Schulen zu gehen. Als ich in den fünfziger Jahren aufwuchs, da schickte in Kalifornien niemand seine Kinder nicht in öffentliche Schulen, egal, wie viel Geld man hatte. Nur wenn du nicht mit den Leuten zurechtkamst oder Lernprobleme hattest, kamst du auf eine Privatschule. Ich ging vier Jahre lang auf eine private Quäkerschule, auf die uns unsere Eltern schickten, weil sie dachten, wir lernen mehr in einer anderen Umgebung. Wir haben uns immer gefragt: Was stimmt nicht mit uns? Warum sind wir hier? Das gilt heute nicht mehr. Es war mal gesellschaftlich geächtet, seine Kinder nicht in eine öffentliche Schule zu schicken, heute ist es gesellschaftlich geächtet, seine Kinder in eine öffentliche Schule zu schicken, wenn man sich eine private leisten kann.

Zurück zum Buch: Wie waren die Reaktionen auf Ihre Liebeserklärung an die Pet Shop Boys?

Was die Leute am meisten verärgert hat, ist nicht die Annahme, dass ich versuche, eine müde alte Kultur für die Gegenwart auszuschlachten, sondern die Tatsache, dass ich es gewagt habe, zu behaupten, dass der Geist von «Like a Rolling Stone» eine Heimat gefunden hat in «Go West» von den Pet Shop Boys.

Das ist meine Lieblingsstelle. Wie sind Sie auf die Idee gekommen?

Ich habe überlegt, wohin «Like a Rolling Stone» gegangen ist, wo sein Geist und seine Vehemenz hingekommen sind, seine Erhabenheit, sein Suchen, sein Sinn für Gefahren und für Möglichkeiten. Zuerst dachte ich an Dylans eigene Songs, an «Tangled up in Blue» und «Idiot Wind». Aber verglichen mit «Like a Rolling Stone» sind beide unvollständig. Dann dachte ich an «Highlands», diesen ungeheuer langen Song von «Time out of Mind». Ich fand den Sinn für Verlust so zwingend, da spricht eine alte Person, der es nicht mehr wichtig ist, ihr Leben zu ändern. Dahin ist «Like a Rolling Stone» gegangen, dachte ich, dort wird der Song sterben. Etwa zur selben Zeit hörte ich im Autoradio «Go West». Es war immer mein Lieblingssong von den Pet Shop Boys. Ich hatte ihn eine Weile nicht gehört, und da war er im Radio, und plötzlich war mir klar: Das ist «Like a Rolling Stone»! Das ist dieselbe Geschichte: Wir lassen unser altes Leben hinter uns, wir beginnen ein neues, wir gehen ins gelobte Land, das ist unser Schicksal! Und dann die Zweifel und diese Furcht in Neil Tennants Stimme, das Zögern: Bin ich stark genug? Was passiert, wenn der Traum sich nicht verwirklichen lässt? Alles, was «Like a Rolling Stone» der Welt erzählen wollte, dass es da draussen ein anderes Land gibt, dass es da ein anderes Leben zu leben gibt, wenn du die Nerven dafür hast, all das ist in diesem Song enthalten. Natürlich war mir klar, dass er von Schwulen handelt, die 1979 in den New Yorker Castro-Bezirk gehen, um dort in einem schwulen Utopia zu leben, wo sie akzeptiert sind, Freunde finden, Liebe finden, ganz egal wie sie in ihrer Heimat behandelt wurden. Aus dieser Stimmung heraus wurde «Go West» geschrieben. Natürlich war das nicht mehr die Stimmung, als Neil Tennant den Song aufnahm.

Das war 1993. Aids hatte das gelobte Land im Westen Manhattans in einen Friedhof verwandelt, eine «City of the Walking Dead». Das Original von «Go West» stammt von den Village People und war 1979 eine optimistische Hymne auf die homosexuell befreiten Zonen im Greenwich Village, nach dem sich die Village People benannt hatten.

Tennant nahm «Go West» auf als heroische Suche nach einem Ort, der nicht mehr existierte. Das gibt ihm seine Tragik und seine Schönheit. Dieser Song hat die Herausforderung angenommen, die «Like a Rolling Stone» an die Popmusik gestellt hatte. Das kann Popmusik erreichen!

Aber nicht alle waren begeistert von seiner Fortschreibung des heiligen Dylan-Songs.

Sie halten mich für verrückt: Wie kannst du es wagen, die Pet Shop Boys mit Bob Dylan zu vergleichen? Es ist eine homophobe Reaktion. Wie kannst du unseren Helden mit diesen flennenden Schwuchteln vergleichen? Es ist bescheuert.

Greil Marcus: Like a Rolling Stone. Die Biographie eines Songs. KiWi Verlag. Köln 2005. 304 Seiten. Fr. 18.10