Hans Boesch: Brust mit Schäfchen

Nr. 37 –

Die nachgelassenen Kurzgeschichten des wenig bekannten Schweizer Schriftstellers bleiben im Schatten seines früheren Werks.

Er ist eine der grossen Gestalten der Schweizer Literatur und doch einer breiteren Öffentlichkeit kaum bekannt; die meisten seiner Bücher sind gar vergriffen. Der 2003 verstorbene Hans Boesch, der bis zu seiner Pensionierung 1989 als Verkehrsplaner an der ETH Zürich arbeitete, hat besonders mit der autobiografisch gefärbten Romantrilogie «Der Sog» (1988), «Der Bann» (1996) und «Der Kreis» (1999) ein umfassendes Gesellschaftspanorama der Schweiz im 20. Jahrhundert geschaffen.

Der biografische Bogen des Simon Mittler - so der Name der Hauptfigur - reicht von der ländlichen Kindheit im St. Galler Rheintal der dreissiger Jahre über seine Existenzkrise als nicht mehr ganz junger Geometer vor dem Hintergrund der 68er-Bewegung in Zürich bis zur Lebensrückschau im Engadin am Ende des letzten Jahrhunderts. Mit «Schweben» (2003) hat Boesch der Trilogie einen Epilog beigefügt, der jedoch nicht mehr an die erzählerische Intensität seiner früheren Bücher herankommt. Der Name Mittler wird aufgesetztes Programm: Der Vermittlung harren die Technik einerseits, die Natur andererseits. Und die Auseinandersetzung mit Technologie, Altern und weiblicher Jugend droht in - wenn auch keineswegs vulgäre - Altmännerfantasien abzudriften.

Am wunden Punkt

Kurz vor seinem Tod hat Hans Boesch einen Band mit Kurzgeschichten zusammengestellt, der erst jetzt erscheint; der Verlag wollte wohl der kleinen Leserschaft Boeschs aus kommerziellen Gründen nicht zu viele Bücher aufs Mal zumuten. Die mit «Samurai» betitelten «Erzählungen» (so die etwas vollmundige Ankündigung des Verlags) handeln meist von der Begegnung zweier Menschen, die bereits miteinander verbunden sind, sei es als Verheiratete, als Liebende, als Arbeitskollegen oder als Verwandte. Boesch interessiert sich in diesen Geschichten weniger für die Aussenwelt und das Äussere seiner Figuren, als dafür, wie sie ihre Situation wahrnehmen und - noch fundamentaler - ihre Lebensumstände erfahren. Dabei aber geht er gerade nicht «psychologisch» vor, wie es der Klappentext ankündigt. Er spürt nicht der Subjektivität seiner Figuren nach, er will nicht wissen, wie es in deren Innerem aussieht, wie sie fühlen, warum sie sich so und nicht anders verhalten. Immer geht es gleich ums Ganze: Boesch legt mit dem Mittel des Dialogs - dem dominierenden Stilprinzip der Kurzgeschichten - die «objektive» Wahrheit der Figuren frei, um welche diese höchstens vorbewusst wissen. In einer Sprache, die kaum schlichter sein könnte, legt Boesch dar, worum es bei diesen Treffen eigentlich geht, an welchem Punkt ihres Lebens seine Fälle angelangt sind, seltener auch: was ihr wunder Punkt ist.

Doch der Eindruck bleibt - vor allem mit der grossen Romantrilogie vor Augen - wie schon bei «Schweben» zwiespältig. Besonders wenn Boesch seine Geschichten als Parabeln verstanden haben will, drängen sich Weltanschauliches und eine überstrapazierte Symbolik störend in den Vordergrund. Wenn eine Frau vor einem Lastwagen, der ein Schäfchen vor sich herjagt, ihre Brüste entblösst, damit dieser anhält, und dann das Tier auch noch an ihren Busen nimmt, sind wir mitten im paternalistischen Naturkitsch: heilende Kurven - weiblich - versus destruktiven Technikwahn - männlich. Zwiespältig sind auch manche Pointen, die den Geschichten abschliessend die objektivierende Wendung geben: Wenn eine Frau zwar deswegen traurig ist, weil sie in sieben Jahren (eine besondere Zahl, wie wir wissen) von ihrem Mann nicht schwanger geworden ist, aber noch immer jedes Mal die Apfelmusreste in seinen Mundwinkeln liebt, klingt das wie brave Schülerpoesie. Boesch scheitert immer dann, wenn er modern, wenn er auf der Höhe der Zeit sein will. Die Geschichten vom Paar mit offener Beziehung oder der Liebe ohne Sexualität wirken schief; «verrücktes Stück», denkt ein Mann über sie, die nicht mit ihm schlafen will. Was Slang sein soll, kippt ins Peinliche.

Kindliche Empfindungen

Hans Boeschs ureigenes Gebiet ist ein anderes: die verschwundenen Landschaften seiner Kindheit. Unnachahmlich hat er die verlorenen kindlichen Empfindungen beschworen, hat er sich episch in das tagträumende Kind zurückgeschrieben, das sich durch seine magisch-naturhafte Welt bewegt und doch die Katastrophen der Erwachsenen durch jede Pore seiner Haut mitbekommt. In «Schweben» ist diese Welt mit der fesselnden Binnengeschichte der Hebamme, die nächtens durch Kälte und Sturm hastet, um ein Leben zu retten, ein letztes Mal kräftig zum Ausdruck gekommen; in «Samurai» sind davon nur noch schwache Spuren übrig.

Hans Boesch: Samurai. Nagel und Kimche. München und Wien 2005. 141 Seiten. 29 Franken