Antonio Moresco: Extremer Klassiker

Nr. 44 –

Wer versucht, die Welt zu beschreiben, wie sie ist, stösst auf Schwierigkeiten. Der italienische Autor Antonio Moresco hat sie glänzend gemeistert.

«Roman» heisst es unter dem Titel des Buchs von Antonio Moresco, einem 1947 in Mantua geborenen und in Mailand lebenden Italiener, der gemäss Klappentext «heute als Vorbild und unbestrittener Wegbereiter für die jüngere italienische Literatur» gelte und laut dem Autor Tiziano Scarpa «die italienische Fusion von Thomas Pynchon und Don DeLillo» sei.

«Aufbrüche»: Ein während 656 Seiten nicht näher definiertes Ich (sicher ist nur: Es ist männlich) hält sich zunächst als Seminarist in einem Kloster auf und beschreibt den manchmal recht unerwarteten Alltag, wobei es das Allermeiste weglässt und vom Rest zuweilen eigenartige, wenn nicht absurde Schilderungen wiedergibt. «Vor einiger Zeit hatte ich gelernt, im Geist die Kerzenflammen mit dem Taschenmesser zu bearbeiten. Man brauchte bloss mit der Klinge in die feuerfeste Schwiele zu fahren und dann drei perfekte Schnitte vorzunehmen, so dass sich die drei konzentrischen Sektionen der Flamme deutlich voneinander trennten.» Dinge geschehen, ohne dass sich etwas verändert (so das Gefühl bei der Lektüre).

Aktiv wird das Ich das erste Mal in der letzten Zeile des ersten Teils, als es, das 252 Seiten lang kein Wort gesagt hat, bejaht, dass es den Ruf, Priester zu werden, vernommen habe. Im zweiten Teil ist es aber - weshalb, wird nicht erörtert - nicht Priester, sondern Mitglied einer revolutionären Organisation, deren Sinn und Zweck das Ich offensichtlich nicht interessieren. Es hält Reden, fährt in einem kleinen gelben Auto in der Gegend herum, häufig mit geschlossenen Augen, wobei das Auto den Weg ins nächste Städtchen von selber findet. Obwohl es sich mit diversen Leuten verbal austauscht, bleibt fast alles unklar. Erst auf der letzten Zeile des Mittelteils handelt das Ich wieder aus eigenem Antrieb: Es bejaht, dass es jetzt Krieger werden will. Im dritten und letzten Teil kämpft das Ich zwar, aber ohne Waffen, sondern als einsamer Schriftsteller um einen Termin bei seinem potenziellen Verleger. Als es ihn schliesslich trifft, empfiehlt ihm dieser, das Manuskript zu vernichten: «Ein Werk schaffen an der Schwelle des neuen Jahrtausends, das nicht seinesgleichen hat, und es dann gleich darauf seiner Zeit entziehen, es dazu bestimmen, auszustrahlen und dabei unversehrt zu bleiben …»

Nein, ein Roman im herkömmlichen Sinn ist das nicht (und auch kein nouveau roman und kein Anti-Roman). Oder anders gesagt: «Aufbrüche» tut so, als ob es so etwas wie Psychologie nicht gebe - in ungekünstelter, kristallklarer Prosa. Anfangs irritiert diese unbekannte Kombination, bald funktioniert sie wunderbar. Der Texttheoretiker Roland Barthes hat in seinem Buch «Die Lust am Text» versucht, zwei Qualitäten von Texten zu fassen: Lust und Wollust. Texte, die Lust verschaffen, bedienen sich, klassischer Elemente, sind meisterhaft verfasst und strömen eine gewisse Behaglichkeit aus; Texte, die Wollust verschaffen, sind dagegen ziellos, extrem, zuweilen scheinbar langweilig, ignorieren Werte. Dass ein Text gleichzeitig beiden Kategorien zugeordnet werden kann, sieht Barthes nicht vor. Vielleicht ist es auch nach den hergebrachten Regeln der Logik unmöglich. Auf jeden Fall bietet Moresco einen solchen Text an. Mit Pynchon und DeLillo hat das allerdings nichts zu tun. Vielmehr gelingt es ihm, einen Text, der von der Anlage und Sprache her wie ein Klassiker von zum Beispiel Stendhal daherkommt, durch das komplette Fehlen jeglichen Urteils in einer Weise zu gestalten, die ohne Vorbild ist. Der Text ist eigentlich durchzogen von hierarchischen Beziehungen, doch nie werden sie zu interpretieren versucht, ganz als ob die Frage der Macht unwichtig, ja inexistent wäre - tatsächlich aber stellt sie sich allmählich und untergründig mit einer nicht für möglich gehaltenen Schärfe. «Aufbrüche» ist gleichzeitig vertraut und verstörend, elegant formuliert und von einer unhaltbaren Monotonie, ist ein Klassiker, der sich gegen jede Einordnung sträubt.

Moresco, scheint es, hat Angst, nicht als Schöpfer eines derartigen Werks erkannt und also missverstanden und von falscher Seite vereinnahmt zu werden. Indem er einen Text liefert, der als einziges grosses Missverständnis durchzugehen vermag, schützt er ihn vor vielen Augen. Aber, so vielleicht seine Spekulation, nicht vor allen. Sonst behielte der unfassbare Verleger aus dem dritten Teil von «Aufbrüche», der rät, das unfassbar gute Manuskript zu vernichten, Recht. Roland Barthes meinte, dass nur keinen Text schreiben bedeute, dass man nie mehr vereinnahmt werde. «Aufbrüche» ist ein ernsthafter und gültiger Versuch, die Gegenwart in Wörter zu fassen, der seinesgleichen zumindest seit Homer nicht kennt. Ich habe mich gelangweilt und keine einzige Zeile ausgelassen. Selig war ich.

Antonio Moresco: Aufbrüche. Ammann Verlag. Zürich 2005. 656 Seiten. Fr. 51.90