Nicolas Bouvier: Der verzauberte Vagabund

Nr. 44 –

In seinen Gedichten hat sich der Genfer Schriftsteller mit seinen Reisen und dem nahenden Tod beschäftigt.

Vierzig Jahre lang hat Nicolas Bouvier an diesem Band gearbeitet. Die Gedichte entstanden unterwegs auf seinen Reisen und während der Niederschrift seiner Reisebücher in Genf. Immer wieder feilte er an den Texten, änderte da und dort ein Wort, eine Satzstellung, eine rhythmische Abfolge. Herausgekommen ist ein Kleinod, sein Lebenswerk in konzentrierter poetischer Form. Der zweisprachige Gedichtband ist 2005 beim Basler Lenos Verlag erschienen, der mit der Neuauflage von Bouviers Werk in den letzten Jahren im deutschsprachigen Raum einen grossen Erfolg erzielen konnte.

1953 notiert Bouvier auf seiner langen Reise nach Asien im verschneiten Täbris, Aserbaidschan: «Halbierte Granatäpfel bluten/unter einer dünnen reinen Schicht Schnee/das Blau der Moscheen unter dem Schnee/die verrosteten Lastwagen unter dem Schnee/die weissen Perlhühner noch weisser (…).» Bouvier fängt einen unspektakulären alltäglichen Moment ein, für den er mit seinen von den Entbehrungen der Reise geschärften Sinnen besonders empfänglich ist. Vergängliche Momente überwältigenden Glücks, entstanden aus kleinen Beobachtungen, aus dem oft zufälligen Innehalten. Er wärmt sich in einer Teestube und beschreibt die dort anwesenden Menschen, freut sich über ein Lied, den warmen Tee, das Lachen eines Schulmädchens. Der «verzauberte Vagabund» lässt sich immer von neuem verzaubern. Das ebenfalls 1953 entstandene Gedicht mit dem Titel «Kein Zurück mehr» steht an erster Stelle des Bandes - wie als Leitmotiv für Bouviers unstetes, heiteres und zugleich schweres Leben: «An jenem Mittag/war das Leben so verwirrend und gut/dass du zu ihm sagtest oder vielmehr flüstertest/ ‹geh und leite mich fehl, wohin du willst›/ Die Wellen antworteten, ‹das wirst du nicht überleben›.»

Düstere Vorahnungen

Im zweiten Teil des Bandes, dem «Innen», nehmen die Gedichte einen anderen Charakter an. Die Beobachtung des Aussen macht einer Innenschau Platz. Der vorher oft so heitere Ton verschwindet. Das gilt vor allem für die späten Gedichte, die in Genf entstanden sind. Sie sind dunkel, voll düsterer Vorahnungen des Todes und Trauer über das Leben, das ihm durch die Finger rinnt. «Seit die Stille/nicht mehr Mutter der Musik ist/seit das Wort doch noch gestanden hat/es führe uns nur zur Stille/weinen die Dachrinnen/ist es finster und regnet es» (Der letzte Zoll, 1983). Der Himmel ist verblasst - der Himmel, der doch damals so «unveränderlich blau» (in Bosnien 1974), «gesprenkelt» (in Täbris 1953) oder «zimten» (in Zentralindien) war. Bouvier erträgt es nur schwer, dass das Alter seinen Lebensradius einschränkt und er auf das geliebte Reisen verzichten muss. Als letzte Hoffnung bleibt, dass er nach dem Tod in einer anderen Form zum Nomadendasein zurückfinden kann. So heisst es in seinem letzten Gedicht «Flaute», das am 24. Oktober 1997, knapp vier Monate vor seinem Tod, entstanden ist: «Das Leben hat dir dein Reittier genommen/und entfernt sich von dir/in einem Galopp von Asche.» Das Gedicht endet mit den Zeilen: «In einem Anderswo/das seinen Namen nicht sagt/in anderen Hauchen und anderen Ebenen/musst du jetzt/ leichter als eine Distelkugel/schweigend verschwinden/und den Wind auf den Strassen wiederfinden.»

Nicolas Bouvier: Aussen und innen. Le Dehors et le dedans. Gedichte. Poèmes. Lenos Verlag. Basel 2005. 129 Seiten. Fr. 29.80