Ägypten: Verzweifelte Wahl des Ungewissen

Nr. 48 –

Trotz massiver Einflussnahme kriegt das korrupte Regime bei den Parlamentswahlen tüchtig eins auf die Nase.

Die Parlamentswahlen in Ägypten sind noch nicht zu Ende, und doch steht die Sensation bereits fest: Einzige ernst zu nehmende Opposition zu den allmächtigen Nationaldemokraten (NDP) von Präsident Hosni Mubarak wird im neuen Parlament die verbotene Partei der Muslimbrüder sein. Eigentlich sind die Muslimbrüder illegal, da Parteien mit religiösem Hintergrund aus Sorge um den interreligiösen Frieden im Land – rund zehn Prozent der Bevölkerung sind christlich-koptischen Glaubens – untersagt sind. Aber in den letzten Jahren hat die Regierung die Bewegung zunehmend geduldet. In den Wahlrunden vom 9. und 20. November sind bereits 76 als «Unabhängige» kandidierende Vertreter der Muslimbrüder ins Parlament gewählt worden. Das sind fünfmal mehr, als in der scheidenden Volkskammer sassen. Bis zum Ende der Wahlen in einer Woche könnten die Muslimbrüder durchaus 100 der insgesamt 454 Sitze im Parlament erlangen.

Das ist aus mehreren Gründen bemerkenswert. Vorab, weil den Demokratisierungsabsichten der Regierung niemand wirklich glaubte. In der ersten Jahreshälfte änderte sie die Verfassung, womit für die Präsidentenwahl vom September erstmals seit über fünfzig Jahren mehrere Kandidaten zugelassen waren. Früher bestimmte das Parlament den offiziellen Bewerber, zu dem die StimmbürgerInnen dann nur noch «na’am» (Ja) zu sagen brauchten. Trotz hoher Schwellen für Kandidaturen standen dieses Jahr tatsächlich neun Kandidaten zur Wahl. Mubarak, seit 1981 im Amt, wurde mit nur 88,6 statt der sonst üblichen über 90 Prozent für eine fünfte Amtszeit gewählt. Diese «Demokratisierung» wurde weltweit eher belächelt – umso mehr, als die Stimmbeteiligung gerade mal 23 Prozent betrug.

Für die laufenden Parlamentswahlen lautet die Regierungsdevise «Transparenz»: Erstmals kommen durchsichtige Urnen zum Einsatz, die nicht schon vor Wahlbeginn mit Stimmen für die Regierung gefüllt werden können. Die Wahlen erfolgen unter Aufsicht der – im Vergleich zum Innenministerium angeblich unabhängigeren – Justizbehörden des Landes. Etlichen ägyptischen nichtstaatlichen Organisationen und Medien ist die Wahlbeobachtung gar innerhalb der Wahlbüros erlaubt. Internationale Beobachtung bleibt allerdings inoffiziell, alles andere würde in ägyptischen Augen einen Souveränitätsverlust bedeuten.

Trotzdem waren die bisherigen vier Wahlgänge von unschönen Szenen gekennzeichnet: Schlägertrupps, aber auch staatliche Sicherheitskräfte verhinderten dort den Zugang von WählerInnen zur Urne, wo Mehrheiten für die KandidatInnen der Muslimbrüder befürchtet wurden. Dafür karrten Kandidaten der NDP Angestellte ihrer Betriebe busweise zu den Wahlbüros. Die Wählerlisten befinden sich auch dieses Jahr in den Händen des Innenministeriums, das von der NDP kontrolliert wird. Das hat Fälschungen Tür und Tor geöffnet.

All dies verhinderte den Wahlerfolg der Muslimbrüder nicht. Praktisch aus dem Stand überholten sie traditionsreiche Oppositionsparteien, so die linken Nasseristen und die grossbürgerliche Wafd-Partei. Ebenso schlugen sie die neue Ghad-Partei, deren Kopf Ajman Nur zwar in der Präsidentenwahl der erfolgreichste Mubarak-Gegner war, sich nun aber nicht einmal einen Parlamentssitz sichern konnte.

Dieses Resultat und die miese Wahlbeteiligung drückt einen Riesenfrust der Bevölkerung aus – Frust über die Regierungspolitik, aber auch über die nur mit ihrer Karriere befassten Oppositionspolitiker und über die allgegenwärtige Korruption. Wie verzweifelt müssen WählerInnen sein, die blind darauf vertrauen, dass KandidatInnen, die mit dem Allerweltsslogan «Der Islam ist die Lösung» antreten, weniger korrupt sind als die jetzigen Politiker?

Dabei kaufen sie die Katze im doppelt zugebundenen Sack. Das Programm der Muslimbrüder ist alles andere als klar: Zwar geben sie sich derzeit zahm – ihre Vertreter erscheinen ohne Vollbart und Scheich-Gewand, der Gewalt haben sie abgeschworen und sich damit die Duldung durch die Regierung erkauft. Aber ob das islamische Recht eingeführt werden soll und welche Stellung die Muslimbrüder der Frau oder religiösen Minderheiten einräumen, bleibt so unklar wie ihre wirtschaftlichen Pläne.

Eine weitere Unklarheit ist, wie weit der derzeitige Langmut der Regierung gegenüber den Muslimbrüdern gehen wird. Mubaraks Vorgänger Anwar as-Sadat ist islamistischen Mördern zum Opfer gefallen, obwohl er sein Amt mit der Freilassung von muslimischen Politikern antrat. Das Gesetz – in Ägypten gilt immer noch das Notrecht – erlaubt Mubarak jederzeit eine schärfere Gangart. Und vielleicht werden auch die Vereinigten Staaten, der grosse Spender und Bruder des Mubarak-Regimes, nach dem Ausgang dieser Wahlen sich überlegen, wie viel Druck sie für weitere Demokratisierungsschritte machen wollen.