Jean-Pierre und Luc Dardenne: «Arbeiten ist was für Arschlöcher»

Nr. 2 –

Auch in ihrem neuen Film «L’Enfant» gelingt es den belgischen Brüdern, prekäre Lebenssituationen in Szene zu setzen, ohne dabei der Sozialromantik zu verfallen.

Eine Ausfallstrasse zerschneidet das Bild. Autos schiessen von links nach rechts, von rechts nach links. Sonia will auf die andere Seite, aber keine Lücke tut sich auf. Das Geräusch der Wagen ist wie eine Drohung: Versuch es erst gar nicht, hier bremst niemand. Nur für Autos gedacht sind diese Gegenden am Stadtrand. Drei Spuren rechts, drei Spuren links, dazwischen ein schmaler Streifen Gras, in der Ferne eine Fussgängerbrücke. Einen Bürgersteig gibt es nicht, weil es keine Bürger mehr gibt. Sondern nur noch Drop-outs wie Bruno und Sonia.

Gehetzt- und Getriebensein

Bruno (Jérémie Rénier) und Sonia (Déborah François) sind die Hauptfiguren von «L’Enfant» («Das Kind»), dem neuen Film der belgischen Brüder Jean-Pierre und Luc Dardenne. Sie sind kaum volljährig, aber eben Eltern geworden. Schauplatz ist eine belgische Stadt, die in den Tagen der Schwerindustrie prosperierte und heute verelendet. Bruno hält sich als Kleinganove über Wasser; er trägt einen kecken Hut, eine neue Lederjacke und sagt: «Arbeiten ist was für Arschlöcher.» Gleich zu Beginn des Filmes wird Sonia die Tür ihrer eigenen Wohnung vor der Nase zugeschlagen. Denn während sie im Krankenhaus Jimmy zur Welt brachte, hat Bruno die Wohnung untervermietet, und jetzt öffnet sich die Tür jeweils nur einen Spalt, um dann mit umso grösserer Wucht zuzuschlagen. Diese Szene markiert mithin ein Schlüsselmotiv im Œuvre der Dardennes: Die Figur ringt um Zugang, doch er bleibt ihr verwehrt.

Auf der Suche nach Bruno eilt Sonia zum Versteck am Fluss, das Kind als hellblau verpacktes Bündel auf dem Arm. Aber auch hier ist er nicht. Um zurück in die Stadt zu kommen, muss sie die Ausfallstrasse überqueren. Ihre rastlosen Bewegungen fängt Alain Marcoen, der Kameramann, von hinten ein, in langen, ungeschnittenen Szenen. Den Rücken, den Nacken und den Hinterkopf eines Menschen in Bewegung aufzunehmen, ist die Signatur von Marcoen, der seit 1987 mit den Dardennes zusammenarbeitet. Seine nervöse Kameraführung unterstreicht die Ruhelosigkeit der Figuren, ihr Gehetzt- und Getriebensein.

Als Sonia Bruno endlich findet, steht er am Rand einer Strassenkreuzung. Sie möchte, dass er das Kind auf den Arm nimmt. Doch halb stellt sich Bruno ungeschickt an, halb verweigert er Teilnahme und Vaterglück. Noch bevor er seine Hand unter den Kopf des Säuglings schiebt, klingelt sein Mobiltelefon. Er muss los, auf die andere Seite der Strasse; ein neuer Deal wartet auf ihn.

Cabrio statt Windeln

Bruno kann alles, was er anrührt, zu Geld verwandeln. «Ich komme immer zu Geld, nicht nötig, es aufzuheben», sagt er, bevor er Sonia die Jacke kauft, die auch er trägt. Immer wieder zählt er Geld, immer wieder wandern Scheine aus seinen Händen in die Hände anderer, wechselt das Diebesgut den Besitzer. 400 Euro für die DV-Kamera bietet die Hehlerin, 500 will Bruno, sie einigen sich bei 450 - «mit dem Hut», verlangt die Frau.

Nie bleibt ein Gegenstand - oder ein Schein - lange bei ihm. Das Geld für die Kamera investiert er in ein Cabrio; er mietet es für einen Tag, um Sonia zu beeindrucken. Dumm, denkt die kleinbürgerliche Vernunft, sollte er doch besser Windeln kaufen. Aber ebendiese Logik ist Bruno fremd. Warum sollte er sich von den Verheissungen der Warenwelt nicht gefangen nehmen lassen? Nur weil er keine Arbeit und keine Wohnung hat? Auf etwas zu verzichten, mochte früheren Generationen gelingen, weil die nicht mit der Allgegenwärtigkeit von Konsumversprechen gross wurden. Für jemanden wie Bruno ist Verzicht so wenig eine Option wie für die zornigen jungen Männer in den französischen Banlieues die Einrichtung von Bausparverträgen. Ausserdem verkehren sich die Verhältnisse, sobald Bruno und Sonia im Cabrio sitzen. Wer eben noch am Rand der Ausfallstrasse warten musste, um auf die andere Seite zu gelangen, zerschneidet jetzt selbst machtvoll die Landschaft. Die Ausgelassenheit, mit der die beiden den Tag feiern, mit der sie im Auto Walzer hören, sich in die Hände beissen oder auf einem Parkplatz herumtollen, ist ein Indiz dafür, dass die Brüder Dardenne nichts davon halten, die Figuren unter das Joch allumfassenden Unglücks zu zwängen.

«L’Enfant» sperrt seine Protagonisten nicht in ihrem Elend ein, er lässt ihnen die kleinen Fluchten; der Film benutzt seine Figuren nicht, um an ihnen etwas zu veranschaulichen, vielmehr nimmt er sie als Subjekte ernst. Das ist aussergewöhnlich im gegenwärtigen Kino und hat wohl damit zu tun, dass die Dardennes, bevor sie anfingen, Spielfilme zu drehen, viel Erfahrung als Dokumentarfilmer gesammelt hatten. Das muss ihren Blick auf eine Weise geschärft haben, dass sie prekäre Lebenssituationen in Szene setzen, ohne dabei der Sozialromantik zu verfallen oder Thesenkino zu machen. Damit stellen sie sich auf wohltuende Weise einer Tendenz in der Selbstwahrnehmung postindustrieller Gesellschaften entgegen, die Armut nicht wahrhaben will. Je mehr Leute verarmen, umso häufiger wird die Rhetorik von der Verantwortung des Einzelnen bemüht. Dass es zur Strukturlogik des Neoliberalismus gehört, wenn ein bestimmter Teil der Gesellschaft aussortiert wird, gerät dabei aus dem Blick. Den Dardennes gebührt das Verdienst, Bilder genau hierfür zu finden.

Entschlackter Realismus

In «Rosetta» (1999) - wie «L’Enfant» in Cannes mit einer Goldenen Palme ausgezeichnet - sucht die titelgebende Protagonistin verzweifelt nach einem Job, um der alkoholisierten Mutter zu entkommen und den Wohnwagen wie den Hunger gegen minimal geordnete Verhältnisse einzutauschen. In «La Promesse» («Das Versprechen», 1996) sind es Migranten aus Afrika, die ohne Papiere auf Baustellen arbeiten - unter so miserablen Bedingungen, dass leicht ein Unfall geschieht. In «Le Fils» («Der Sohn», 2002) ist es ein Schreiner, dessen Sohn ermordet wurde. Ausgerechnet den jugendlichen Mörder des eigenen Kindes nimmt er als Lehrling in seine Werkstatt auf. So mischt sich in den entschlackten Realismus der Dardennes etwas, was das Zeug zum Tragödienstoff hat.

Auch «L’Enfant» weitet sich zur Tragödie, da Brunos Geschick, alles zu Geld zu machen, vor der eigenen Familie nicht Halt macht. Bruno ist nicht nur Drop-out, er ist auch eine Figur, in der die Rhetorik von der Eigenverantwortung und -initiative zur Kenntlichkeit entstellt wird, insofern diese Rhetorik wie von einem Zerrspiegel zurückgeworfen wird. Solange alles gut geht, funktioniert Bruno, der kleine Ganove, wie ein Kleinunternehmer: schnell, flexibel, geschäftstüchtig. Nur dass er seine Dienste eben nicht in der Legalität, sondern in der Illegalität anbietet. Den düsteren Höhepunkt seines unternehmerischen Ehrgeizes bilden jene Sequenzen, in denen er sein Kind eintauscht, als sei es eine Ware, ohne Unterschied zur DV-Kamera oder zu anderem Diebesgut. Als er mit leerem Kinderwagen vor der Mutter steht, sagt er: «Wir können doch noch eins machen.»

Dass die Dardennes eine Fluchtlinie jenseits dieser Unverfrorenheit skizzieren, darf nicht als faules Happyend verstanden werden. Im Gegenteil: Wenn am Ende von «L’Enfant» so etwas wie Hoffnung aufscheint, dann hat das mit dem bedingungslosen Einsatz der Regisseure für ihre Figuren zu tun - und damit, dass die Dardennes eine rar gewordene Form filmischer Wahrhaftigkeit erreichen.


«L’enfant». Regie: Jean-Pierre und Luc Dardenne. Frankreich/Belgien 2005. Ab 12. Januar im Kino. Das Kino Xenix in Zürich zeigt im Januar eine Retrospektive mit Filmen von Jean-Pierre und Luc Dardenne. www.xenix.ch