«Alles, was wir geben mussten»: Die schwebende Selbstaufklärung

Nr. 13 –

Kazuo Ishiguro hat eine raffiniert erzählte Internatsgeschichte geschrieben, die die Humanisierung eines Klonprojekts auslotet.

Nachdem vor etwas mehr als Jahresfrist die Nachricht von den ersten angeblich geglückten menschlichen Klonzellen zu uns kamen, beeilte sich das auf vorgerücktem Posten agierende Feuilleton, die Menschenrechte für Klone auszurufen und deren Belange zu verteidigen. Dass wer zu schnell auf die Überholspur lenkt, gelegentlich von der Langsamkeit des Fortschritts eingeholt wird und sich am Ende die Sensation wie im Fall des koreanischen Klonforschers Hwang als Fake herausstellt, ändert nichts daran, dass die Frage - zumindest theoretisch - durchaus richtig gestellt ist: Hat der Klon eine Seele?

Normalerweise böte sich der Stoff für einen reisserischen Sciencefictionfilm an, der das wissenschaftlich Erklärungsbedürftige in mehr oder weniger geschickt verpackten Dialogen transportiert und auf Action setzt. Doch obwohl einer von Kazuo Ishiguros Romanen den Sprung auf die Leinwand schaffte und «The Remains of the Day» («Was vom Tage übrig blieb») sogar zum Kinohit avancierte, schlägt der in England lebende Autor mit seinem neuen Roman «Alles, was wir geben mussten» sehr leise und poetische Töne an und wartet weder mit wissenschaftlichen Unterweisungen noch mit dramatischer Handlung auf.

Vordergründig erzählt Ishiguro eine klassische englische Internatsgeschichte. Sie wird erinnert von der 31-jährigen Kathy H., die als so genannte «Betreuerin» von «Spendern» tätig, doch im Begriff ist, die Seiten zu wechseln und selbst zur Spenderin zu werden. Diese vorerst nicht weiter verhandelte Tatsache und der Tod ihrer beiden besten Freunde Ruth und Tommy veranlassen sie, die Jahre in Hailsham, einer von der Aussenwelt völlig abgeschirmten Landschule, heraufzubeschwören.

In dem abgelegenen Herrenhaus leben die Kinder nach Altersstufen getrennt in Gruppen. Sie lernen früh, sich der Gemeinschaft anzupassen. Auf Tauschbörsen und Basaren üben sie ein, was sie in der kapitalistischen Warenwelt erwartet. Die Zöglinge erproben frühzeitig Herrschaftstechniken: Bündnisse und Intrigen, Freundschaft und Ausgrenzung. Tommy, einer der Schüler, ist ein bevorzugtes Opfer der kindlichen Schikanen.

Denn Tommy unterscheidet sich von seinen Kameraden, er verweigert sich der Zumutung, ständig «kreativ» zu sein und schöne Dinge für eine imaginäre «Galerie» zu produzieren. Auf die Provokationen seiner MitschülerInnen reagiert er mit ständigen Wutausbrüchen, wird zum Aussenseiter. Nur zu Kathy fasst er Vertrauen, auch dann noch, als beide in die Pubertät kommen und Tommy mit Ruth, Kathys bester Freundin, eine Liebesbeziehung eingeht.

Dass sich die Kinder von ihren Erziehern, «Aufseher» genannt, grundlegend unterscheiden, spüren sie schon früh. Den «Kollegiaten» ist ein besonderes, nicht konkret fassbares Schicksal beschieden, doch die «Aufseher» meiden das Thema. Nur Miss Lucy scheint die Kinder, «die wissen und doch nicht wissen», aufklären zu wollen: «Euer Leben ist vorgezeichnet. Ihr werdet erwachsen, und bevor ihr alt werdet, noch bevor ihr überhaupt in die mittleren Jahre kommt, werdet ihr nach und nach eure lebenswichtigen Organe spenden. Dafür wurdet ihr geschaffen. Ihr alle.» Eines Tages verschwindet Lucy.

Besonders sind aber nicht nur die Zöglinge in Hailsham, die geklonten Produkte einer Gesellschaft, die auf diese Weise den Nachschub auf dem Organmarkt sichert. Besonders ist auch Ishiguros in poetischer Schwebe gehaltene «Selbstaufklärung», die die LeserInnen - obwohl Kathy rückblickend erzählt - nur gerade immer so viel wissen lässt, wie die heranwachsenden Kinder erfassen. Dass für sie Hailsham «Familie» bedeutet und mehr noch aller Ursprung ihres Seins, merken sie erst, als die Internatszeit hinter ihnen liegt und sie während einer Art Latenzphase in den Cottages auf ihre zukünftige Aufgabe - als BetreuerInnen und SpenderInnen von Organen - vorbereitet werden. Immer noch rätseln die jungen Leute über das, was sich in Hailsham zugetragen hat: Warum beispielsweise sollten sie «kreativ» sein, wenn ihr Leben so kurz und prädestiniert ist? Woher stammen sie, wer sind die «Originale», nach denen sie geschaffen wurden?

Mit den Fragen wachsen die Spannungen, die «Familie» fällt auseinander. Zu spät erkennt Kathy, dass die Suche nach einem Ausweg, die Möglichkeit, dem Schicksal zu entwischen, den Keil noch tiefer zwischen die Freunde getrieben hat. Als sie Tommy - nach Ruths letzter, tödlich endenden Spende, ihrem «Abschluss» - schliesslich doch noch als Spender betreut und sie ihre gegenseitige Liebe offenbaren können, ist es zu spät. Zwar kommen sie dem Geheimnis von Hailsham auf die Spur, doch erst, als die Einrichtung schon der Vergangenheit angehört. Dass die in der «Galerie» aufbewahrten Werke ihre Seele bezeugen, nützt ihnen nichts.

Es wäre allerdings viel zu kurz gegriffen, Ishiguros Roman ausschliesslich als Kritik am gentechnischen Projekt und seinen medizinischen Implikationen zu lesen. Zwar mag ihm der über England hinaus bekannt gewordene Fall des kleinen Adam Nash, der nur gezeugt wurde, um Stammzellen für seine kranke Schwester spenden zu können, im Sinn gelegen haben, denn es gibt gegen Ende des Romans eine explizite Generalabrechnung mit der Vorstellung, das Klonprojekt liesse sich «humanisieren». Gerade das sind aber die eher schwächeren Teile des Romans, wie übrigens auch alle die Organspende betreffenden Sequenzen, die bemerkenswert unkonkret und schlicht auch unkorrekt sind, denn ausser Nieren und unter Umständen Leberteilen sind lebenswichtige Organe nur bei Strafe des Todes zu entnehmen.

Doch darum geht es in Ishiguros Roman gar nicht. Seine ganz normalen, menschlich denkenden und handelnden Klone verweisen über sich hinaus. Sie sind eine Metapher für die Verlorenheit des Menschen und das, was er verloren hat, die «alte» Welt. Gerade weil der Autor seine Geschichte nicht in die Zukunft verlegt hat, sondern in das England am Ende des 20. Jahrhunderts und sie ausserdem als schlicht erzählte Schulgeschichte daherkommt, ist sie so alarmierend. Für das, was künftig sein wird, werden jetzt die Weichen gestellt. Wir sind aufgerufen, die «alte» Welt, das «Kindheitsparadies», zu schützen und zu erhalten. Weil am Ende sonst nur noch die «Galerie» - die Kunst - von ihr erzählen wird.

Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten. Blessing Karl Verlag. München 2005. 352 Seiten. Fr. 34.90