Selbstverwaltung: Mit Haut und Haar dabei

Nr. 14 –

Wenig Lohn, Selbstausbeutung und dreckige WCs - oder Leidenschaft, Demokratie und Lernmöglichkeiten? Die WOZ lud zur Diskussion nach Solothurn.

Wird die UBS bald selbstverwaltet? Die UBS-Angestellten könnten innerhalb der nächsten drei Jahre durch Aktienkäufe eine Stimmenmehrheit erlangen, informierte das Grossunternehmen bei der Präsentation seines Geschäftsberichtes 2005. Doch was bedeutet eigentlich Selbstverwaltung? Einheitslöhne? Das Fehlen von Hierarchie? Gleiche Arbeit für alle? Über solche Fragen diskutierten am 30. März im Solothurner Genossenschaftsrestaurant Kreuz Rolf Niederhauser («Kreuz»-Mitbegründer), Barbara Mumenthaler (langjährige «Kreuz»-Mitarbeiterin), Kurt Hillmann (Elektrikergenossenschaft Ego), Kaspar Schuler (Geschäftsleiter Greenpeace Schweiz) und Bettina Dyttrich (WOZ).

Rolf Niederhauser gehört zu den Selbstverwaltungspionieren der Schweiz: Vor 33 Jahren gründete er das «Kreuz» mit, die älteste Genossenschaftsbeiz der Schweiz. Der in Basel lebende Schriftsteller erinnerte sich auf dem Podium: «Natürlich gab es historische Modelle, aber im Grunde mussten wir alles selbst erfinden.» Die «Kreuz»-GenossenschafterInnen bezogen sehr tiefe Einheitslöhne und lernten durch das Ausprobieren. «Dieser ganze Prozess war ein sinnliches Erlebnis.» Nach etwa einem Jahr entstanden formellere Strukturen wie Arbeitsgruppen mit klar zugeteilten Verantwortlichkeiten. 33 Jahre später ist das «Kreuz» zwar immer noch selbstverwaltet, doch mittlerweile gibt es eine Geschäftsleitung und je nach Arbeit und Berufserfahrung unterschiedliche Löhne: Der Höchstlohn beträgt 5300 Franken, der tiefste 3100 Franken brutto. «Die Entscheidungen und Strategien werden von den aktiven GenossenschafterInnen beschlossen, die Geschäftsleitung setzt sie um», sagte die langjährige Mitarbeiterin Barbara Mumenthaler. Dies vor allem, weil nicht mehr alle Angestellten GenossenschafterInnen seien. Zudem würden viele MitarbeiterInnen im «Kreuz» ihre ersten Berufserfahrungen sammeln.

Selbstverwaltung ist kein starres System, sondern kann an die Bedürfnisse der Beteiligten und die Branche angepasst werden. Dies beweist das Elektrikerkollektiv Ego aus Winterthur, wo die Selbstverwaltungskultur laut Genossenschafter Kurt Hillmann besonders ausgeprägt ist. Dass die 1982 gegründete Ego bis heute erfolgreich auf dem Markt besteht, hat laut Hillmann mit der hohen Selbstverantwortung zu tun: «Weil jeder tut, was ihm am besten gefällt, gibt sich jeder mit Haut und Haar. Das Resultat ist gute Arbeit und gute Qualität.» Die GenossenschafterInnen beziehen einen relativ hohen Stundenlohn von vierzig Franken netto. Und: «Bei Bauprojekten und der Kundenbetreuung gibt es klar definierte Zuständigkeiten.»

Während die rund 45 Angestellten der WOZ weitreichende betriebliche Entscheidungen im Plenum fällen, praktiziert die Ego ein eigenes Modell: Einmal jährlich findet eine dreitägige Generalversammlung mit feinem Essen und Trinken statt. «Diesen Vollservice leisten wir uns, damit hart diskutiert werden kann», sagt Hillmann, «über die Löhne, die Aufnahme neuer Genossenschafter, neue Geschäftsfelder oder persönliche Konflikte.» Während des Jahres hingegen treffen sich die GenossenschafterInnen «nur», um ihre Arbeit zu organisieren. «Allerdings gibt es eine Notbremse», so der Elektroinstallateur. «Jeder Genossenschafter kann jederzeit sofort eine ausserordentliche Generalversammlung einberufen.»

Anders verhält sich die Situation bei Greenpeace: Die Umweltorganisation ist hierarchisch organisiert. «Bei einer Betriebsgrösse von sechzig Angestellten kann nur eine begrenzte, klar definierte Verantwortung von den Mitarbeitern tatsächlich wahrgenommen werden», sagte Kaspar Schuler, seit 2001 Geschäftsleiter von Greenpeace Schweiz. Doch ein Ökomulti mit Hauptsitz in Amsterdam sei man deswegen nicht. «Greenpeace International hat eine reine Koordinationsfunktion und kann uns nichts befehlen», sagte Schuler. «Über die Kampagnen entscheiden die Verantwortlichen aus den verschiedenen Ländern. Es wird so lange diskutiert, bis es einen Konsens gibt.» Schuler verdient 10 900 Franken brutto monatlich, der tiefste Lohn liege bei 4999 Franken. Die Angestellten haben über die Personalvollversammlung und den Personalausschuss Antragsrecht gegenüber der Geschäftsleitung. «Zudem kann der Personalausschuss jeden Entscheid der Geschäftsleitung infrage stellen und an den Stiftungsrat weiterziehen.»

Arbeitsteilung findet nicht nur bei Greenpeace, sondern auch in den selbstverwalteten Betrieben statt. «Allerdings gibt es bei uns eine gewisse Durchlässigkeit», so WOZ-Redaktorin Bettina Dyttrich. «Ich selber beispielsweise habe vor fünf Jahren im Korrektorat begonnen, heute bin ich Inlandredaktorin.» Es gibt Leute im Verlag, die ab und zu schreiben, und es gibt Anlässe wie grosse Demos oder den 1. Mai, an denen so gut wie alle MitarbeiterInnen die WOZ verteilen. Arbeitsteilung muss aber keine Hierarchie bedeuten. «Die WOZ hat verschiedene Gremien und führte im vergangenen Jahr eine Redaktionsleitung ein», so Dyttrich. Die Redaktionsleitung übe aber wie die anderen Ausschüsse eine Koordinationsfunktion aus und bestimme nicht den Inhalt der Zeitung. Es gelte immer noch die Gleichberechtigung aller GenossenschafterInnen, die einen Einheitslohn von 3900 Franken brutto beziehen.

Die meisten selbstverwalteten Betriebe haben sich vom ganzheitlichen Selbstverwaltungsmodell «Alle machen alles» verabschiedet. Viele haben beispielsweise die Reinigungsarbeiten an externe Putzleute ausgelagert, die auch keine GenossenschafterInnen sind.

«Selbstverwaltung bedeutet auch Selbstverantwortung. Aber wird diese Verantwortung wahrgenommen?», fragte Moderator und WOZ-Redaktor Stefan Keller. «Das kommt auf den Charakter der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an», antwortete Barbara Mumenthaler. «Es gibt solche, die geführt werden wollen, andere arbeiten gern selbständig. Beides hat Raum. Das ‹Kreuz› musste bisher äusserst selten jemanden entlassen.»

Wie geht man bei Ego mit den Themen Verantwortung und Konflikten um? Kurt Hillmann: «Unser Grundprinzip: Man stellt sich gegenseitig ein, und genauso befiehlt man sich auch gegenseitig. Jeder geht dabei immer davon aus, dass der andere das Beste will und einen guten Grund hat, wenn er etwas fordert. Das funktioniert eigentlich reibungslos.» Entlassungen werden bei Ego nur einstimmig beschlossen. «Solange man mindestens jemanden hat, der zu einem steht, kann man nicht entlassen werden. Und wenn niemand mehr zu einem steht, ist der Fall klar, oder?», erklärt Hillmann. Der Winterthurer Betrieb hat in den 24 Jahren seines Bestehens noch nie jemanden entlassen. In den Statuten von Ego steht: «Niemand hat ein Recht auf Arbeit.» Die Elektrikergenossenschaft ist in einer stark schwankenden, konjunkturabhängigen Branche tätig. «Arbeit wird einem nicht geschenkt, die muss man sich suchen. Auch das ist Selbstverwaltung», so Hillmann.

Greenpeace ist zwar nicht selbstverwaltet, «doch eine hohe Selbstverantwortung tragen auch bei uns alle», so Kaspar Schuler. Das habe mit der Greenpeace-Ethik, aber auch mit dem Gruppendruck zu tun. «Wer sich bei uns nicht engagiert, kommt nicht gut weg.» Wie funktioniert das bei der WOZ? «Im ersten Moment denken natürlich alle: Es ist cool, keinen Chef zu haben. Das stimmt auch», sagte Bettina Dyttrich. «Aber man muss dafür disziplinierter und selbständiger sein als in einem herkömmlichen Betrieb.» Auch sei das Verantwortungsgefühl gegenüber den ArbeitskollegInnen sehr hoch. Diese Identifikation mit dem Betrieb hat aber laut Dyttrich auch eine problematische Seite: «Dieser Druck kann zu extremer Selbstausbeutung führen.» Die Frage, ob alle genug leisten, sei eine dauernde Konfliktquelle.

Oft wird Selbstverwaltung gleichgesetzt mit einem ausgeprägteren sozialen Gewissen oder Engagement. Selbstverwaltete Betriebe sollen mehr Junge ausbilden als herkömmliche Betriebe oder Nischenarbeitsplätze für psychisch Angeschlagene zur Verfügung stellen. Aber stimmt das und geht das überhaupt?

«Ein Betrieb muss effizient sein und rentieren. Sogar Nachhaltigkeit wird heute über das Rentieren definiert», sagte Bettina Dyttrich von der WOZ. «Das ist für mich ein kompletter Fehlschluss. Es gibt nun mal Menschen und Betriebe, die anders funktionieren, und die brauchen auch einen Platz.» Doch diese Probleme der Gesellschaft könne man auch als selbstverwalteter Betrieb nicht lösen. «Auch wir sind Teil dieses Systems und den wirtschaftlichen Zwängen unterworfen.» Ein Gast aus dem Publikum kritisierte, dass die Ansprüche gerade in einem selbstverwalteten Betrieb dermassen hoch seien, dass Menschen mit Problemen dort keine Chance hätten.

Im «Kreuz» hätten immer wieder solche Leute arbeiten können, hielt Rolf Niederhauser dagegen. «Selbstverwaltung ist nicht nur ein betriebswirtschaftliches Modell, sondern auch ein politisches und pädagogisches Projekt. Die Unruhen in Frankreich zeigen beispielsweise, dass das Land keine Strukturen für die Selbstverwaltung, das heisst die lokale Mitverantwortung und -mitbestimmung, kennt.» Im Fall der Schweiz sei dies anders: «Dieses Land hat im Europa der zerrissenen Mächte immer versucht, sein eigenes Ding durchzuziehen. So gesehen, befindet sich die Schweiz in einem jahrhundertealten Lernprozess der Selbstverwaltung.»


Die WOZ bedankt sich herzlich bei der Genossenschaft Kreuz für das Gastrecht und die Hilfe bei der Veranstaltung.