Kapitalismuskritik: Psychopathologie der Abzockerei

Nr. 27 –

Mit dem Sieg über den Kommunismus legte der Kapitalismus all seine Hemmungen ab. Er wurde - um mit Freud zu sprechen - «polymorph pervers».

Zur Einstimmung der geneigten LeserInnenschaft: Sigmund Freud hat die menschliche Psyche eingeteilt in ein Über-Ich (Gewissen, Moral), ein Ich (Bewusstsein) und ein Es (Unbewusstes, Triebhaftes).

Der Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums, damit des mit der russischen Oktoberrevolution von 1917 beginnenden epochalen Experimentes eines autoritären Staatskommunismus, den man später auch einen real existierenden Sozialismus nannte, hat dem politisch demokratischen und wirtschaftlich kapitalistischen Westen die als äusserst bedrohlich gefürchtete radikale Alternative zu seinem Gesellschaftssystem weggefegt. Mit einem Schlag war der Kalte Krieg beendet, der jahrzehntelang zwischen den beiden Systemen geherrscht und einmal beinahe zu einem heissen Atomkrieg geführt hatte. Der Osten hatte kapituliert. Das veränderte aber nicht nur die weltpolitische, sondern auch die innenpolitische Situation der westlichen Staaten, in denen mehr oder weniger mächtige kommunistische Parteien agierten, zum Teil radikal: gleichsam über Nacht hatten diese Parteien ihre sowjetische «Schutzmacht» verloren, von der sie zum Teil auch finanziell abhängig waren. Damit schien für die westlichen Staaten und deren Gesellschaftssystem auch die innenpolitische Gefährdung durch die kämpferische kommunistische Alternative endgültig gebannt. Der Westen atmete auf, er fühlte sich von dem bedrohlichen Druck erlöst, auf sozialem Gebiet den Kommunisten das Wasser abgraben zu müssen, um ihnen durch eigene Sozialreformen - so etwa in Form einer sozialen Marktwirtschaft - ihre Attraktivität für die sozialen Unterschichten zu rauben: Der Kapitalismus hatte versucht, sich selbst etwas zu zähmen und seine Klauen zu stutzen, in der Hoffnung, damit die sozialen Argumente der kommunistischen Opposition entkräften zu können. So feierte man denn den Fall der Berliner Mauer und schliesslich des ganzen Sowjetimperiums weit herum als den endgültigen, epochalen Sieg der Demokratie und des Kapitalismus über allen Kommunismus und Sozialismus, damit der so genannt freien Marktwirtschaft über die staatliche Planwirtschaft. Einige liessen sich in ihrem Siegesrausch sogar dazu verleiten, den Kollaps des Sowjetsystems als das «Ende der Geschichte» zu feiern.

Heiliger Hunger nach Gold

Man muss sich das alles wieder vergegenwärtigen, um verstehen zu können, wie es zu der spektakulären Renaissance eines - dank des Berliner Mauerfalls inzwischen globalisierten - Raubtierkapitalismus, zur andächtigen Fetischisierung des «shareholder value» und zu einer Managerkultur ungehemmter Abzockerei kommen konnte. (Laut Duden ist «der Zocker» ein Begriff der Gaunersprache für Glücksspiele.) Unter den Trümmern der Berliner Mauer liegt aber auch das im Laufe der Entwicklung des Kapitalismus als Korrektiv seiner Exzesse entstandene soziale Über-Ich des Westens begraben. Das Es witterte Morgenluft. Das lästige soziale Über-Ich war global, wenn auch nicht entthront, so doch energisch in seine Schranken gewiesen worden. Nun endlich hatte das mit triebhafter Energie geladene Es wieder beinahe ungehemmt einen Handlungsspielraum, um sich nach Lust und Laune entfalten zu können. Verständlich, dass es sich dabei besonders geeignete Tummelplätze aussuchte, wobei sich bald einmal die Manageretagen als besonders attraktiv anboten.

Sigmund Freud wurde auf den Kopf gestellt: Nicht wo Es war, hat sich unter dem Druck eines sozial gesinnten Über-Ichs ein mündiges Ich heraus gebildet, sondern ein entfesseltes Es mit seiner «auri sacra fames», Vergils «heiligem Hunger nach Gold», hatte das Ich überschwemmt. Aber belügen wir uns nicht: Die bulimistische Abzockerei unserer vom Es übermannten Manager ist nicht eine spezifische Berufskrankheit, sondern es ist ein Symptom eines Über-Ich-Zerfalls und eines Es-Triumphes, in unseren auch kulturell immer mehr globalisierten, und das heisst weitgehend auch amerikanisierten kapitalistischen Gesellschaften. Dasselbe Phänomen lässt sich ja auch in der Entwicklung etwa des Fussball- und Autorennsports mit ihren in Spieler und Rennfahrer investierten astronomischen Summen auf der einen und sinnlos randalisierenden Hooligans auf der anderen Seite erkennen. Eine solche Gesellschaft ist krank. Die Abzockerei ist nur eine von dieser Krankheit provozierte Eiterbeule, ein besorgniserregendes Symptom ihres fortgeschrittenen Stadiums.

Globalisierte Managereinkommen

Obgleich in diesen Überlegungen mit individualpsychologischen Begriffen metaphorisch argumentiert wird, müssen wir uns vor einer Personalisierung des Problems der Managerabzockerei hüten. Die Manager sind bloss Marionetten eines neoliberalen Weltgeistes, der uns alle im Griff hat. Es ist sinnlos und lenkt unser Interesse vom Kern der Problematik ab, den Managern, wie das oft geschieht, ein «unanständiges», unmoralisches, unsoziales Verhalten vorzuwerfen, so sehr ein solcher Vorwurf an sich berechtigt ist. Der Wahrheit, das heisst dem Ursprung dieser pathologischen Abzockerei, kommen die Manager selbst näher, wenn sie sich etwa mit dem Argument verteidigen, ihre Einkommen müssten denjenigen ihrer amerikanischen Berufskollegen angepasst bleiben, damit unsere Managerposten auch für besonders qualifizierte ausländische Kollegen attraktiv bleiben. Was bedeutet, dass bereits auch das Managereinkommen globalisiert ist. Das wild gewordene persönliche Es der Manager ist bloss eine Individualisierung des globalen: «Senatus bestia, senatores boni viri», könnte man sagen: Die Senatoren sind brave Männer, aber der Senat eine Bestie. Wenn selbst eine Zeitung vom Rang der «Frankfurter Allgemeinen» einen Bericht aus Bern über die Abzockerei bei uns mit «Neiddebatte in der Schweiz» übertitelt, könnte man sich über eine derart primitive Psychologisierung des Systemproblems wundern, würde diese nicht aufs Schönste den Unwillen und die Unfähigkeit beweisen, diese Abzockerei als besonders auffälliges Symptom der Krankheit des ganzen Systems zu erkennen. Ebenso gut könnte man die Französische Revolution als eine Neidorgie deuten. Diese Neidhypothese ist bloss eine Ideologie zur Rechtfertigung der mit rationalen Argumenten nicht zu verteidigenden Abzockerei. Es soll damit der Skandal verniedlicht, ja lächerlich gemacht werden, dass die globalisierte kapitalistische Wirtschaft den einen Millionen nachwirft, als seien es Basler Fasnachtsräppli, während gleichzeitig das Bundesamt für Statistik ausgerechnet hat, dass die Reallöhne in der Schweiz im Jahre 2005 unter Berücksichtigung der Teuerung um 0,2 Prozent gesunken sind. Die Bezüge unseres globalisierten Landsmanns Josef Ackermann als Chef der Deutschen Bank sind in der gleichen Zeit um 18 Prozent gestiegen. Wenn ein so versierter Wirtschaftstheoretiker wie der Chef der NZZ-Wirtschaftsredaktion Gerhard Schwarz von einem «produktiven Nutzen des Statusneids» spricht (NZZ, 15. April 2006), entwertet er seine in einem anderen Artikel geäusserte Kritik an den «schwer nachvollziehbaren Spitzensalären», die oft «keine echten Leistungslöhne, auch keine veritablen Marktlöhne [und] selbstverständlich auch keine gerechten Löhne» seien, Letzteres allerdings bloss, «weil sie sich diesem philosophischen Begriff entziehen ...» (NZZ, 29. April 2006). Was nicht definiert werden kann, gibt es also nicht. Zu dieser Neiddebatte lässt sich nur sagen, dass mit dem Neidargument der Skandal der räuberischen Abzockerei auf eine Ebene des Moralisierens verlagert wird, wo es doch in Wirklichkeit um Menschenwürde und Menschenrechte geht.

Nur noch individueller Lustgewinn

Die Idee einer sozialen Gerechtigkeit ist nicht bloss eine Marotte von Schreibtischphilosophen, sondern ein fundamentaler Wert unserer Kultur. Weshalb war ein Adam Smith, dieser Karl Marx des Wirtschaftsliberalismus, so eifrig darauf bedacht zu beteuern, dass die angeblich unser Wirtschaftsleben zu unser aller Wohl steuernde «unsichtbare Hand» der Vorsehung dafür sorge, dass die Güter dieser Welt gerecht verteilt würden? Hingegen ist Gerhard Schwarz zuzustimmen: «Einen freiwilligen Verzicht auf hohe Löhne zu erwarten, ist naiv» (ebd.). Das hat sich offenbar noch nicht bis nach Bolivien durchgesprochen, war doch eine der ersten Amtshandlungen des neuen Präsidenten Evo Morales, eines Indios, auf die Hälfte seines Gehalts zu verzichten. Sucht man nach einem Begriff, der mit einem einzigen Wort das Wesen des heutigen globalisierten neoliberalen Kapitalismus charakterisieren könnte, fällt einem der Begriff «pervers» ein. Das, was in der öffentlichen Diskussion «Lohnschere» genannt wird - Ein-Euro-«Jobs» auf der einen, ein Durchschnittsjahreslohn von 2,8 Millionen Franken, der einem Konzernleitungsmitglied ausbezahlt wird, auf der anderen Seite -, eine Lohnasymmetrie von solchem Ausmass sprengt jede Metapher. Die Gewerkschaftszeitung «Work» hat ausgerechnet, dass diese Asymmetrie innerhalb der UBS 1 zu 431 betrage: «Eine einfache UBS-Angestellte müsste 551 Jahre lang arbeiten, um Ospels Jahresgehalt von 24 Millionen zu verdienen» («Work», 28. April 2006).

Aber was meint der Begriff «pervers»? In seiner Sexualtheorie hat Sigmund Freud Perversität definiert als ein sexuelles Verhalten, das nicht der Fortpflanzung dient, eine Lusterwartung, die das Fortpflanzungsziel aufgegeben hat. Da er bereits dem Kind Sexualität zusprach, nannte er die Konstitution des Kindes polymorph pervers. Löst man nun den Begriff aus seiner einseitigen Fixierung auf die Sexualität, kann man Perversität als ein Verhalten definieren, das um eines individuellen Lustgewinns willen seiner ursprünglichen Bestimmung untreu geworden ist.

Im Lateinischen meint «perversitas» Verkehrtheit, Torheit, «perversus» verdreht, verkehrt, unrecht, widersinnig, schlecht. Nennt man nun eine Wirtschaftsform pervers, so ist also damit gemeint, dass es sich um ein verkehrtes, widersinniges, abartiges System handelt, das die Systemträger dazu verführt, um ihres individuellen Lustgewinns willen den gesellschaftlichen Sinn des Systems - nach Adam Smith Wohlstand für alle - zu verraten. Ein Aristoteles hat diesen Verrat allein schon in der Verwandlung einer reinen Subsistenzwirtschaft, die «bloss» dem Lebenserhalt der Menschen dienen will, in eine Erwerbswirtschaft gesehen, der es um Gelderwerb, also um «Profit», geht und die er kategorisch ablehnte.

Halb krankhafte Neigung

Die Perversität der Abzockerei ist so gesehen nicht eine Verirrung einzelner Systemträger, sondern eine des ganzen Systems, das man mit Freud als polymorph pervers bezeichnen könnte. Diese Ansicht hat kein Geringerer als John Maynard Keynes geteilt. Dieser ökonomische Buhmann der Neoliberalen, dessen Theorie Wesentliches beigetragen hat zur Entwicklung jenes Ordoliberalismus, der staatliche Interventionen ins Wirtschaftsgeschehen - so etwa in Form staatlicher Investitionen - gefordert hatte und dem eine soziale Marktwirtschaft verpflichtet war, hat 1930 in einer Rede über die «Economic Possibilities for Our Grandchildren» gesagt: «Die Liebe zum Geld als einem Besitz - anders als die Liebe zum Geld als einem Mittel, sich die Genüsse und Dinge des Lebens zu verschaffen - wird man als das erkennen, was sie ist, ein einigermassen ekelerregendes abartiges Verhalten, eine jener halb kriminellen, halb krankhaften Neigungen, die man mit leichtem Schauder dem Spezialisten für Geisteskrankheiten überlässt» (in: Charles H. Lession: «John Maynard Keynes», Stuttgart 1986, S. 338). Die exzessive Liebe zum Geld als Besitz anstatt bloss als Mittel zum Leben ein «abartiges Verhalten» nennen heisst, sie als ein perverses Verhalten zu verurteilen. Keynes hatte wohl seinen Aristoteles gelesen. Ein Karl Marx hat in seinem Bestseller «Das Kapital», dem heute eine baldige Renaissance zu prophezeien nicht allzu schwer fällt, mit dem ihm verliehenen Wort- und Bilderreichtum verkündet: «Die moderne Gesellschaft, die schon in ihren Kinderjahren den Plutus [den griechischen Gott der Fülle und des Wohlstandes] an den Haaren aus den Eingeweiden der Erde herauszieht, begrüsst im Goldgral die glänzende Inkarnation ihres eigensten Lebensprinzips», und in einer Anmerkung zitierte er aus Sophokles’ «Antigone»: «Denn kein so schmählich Übel wie des Geldes Wert erwuchs den Menschen» («Marx-Engels-Werke», Bd. 23, S. 146 f. ). Und um den Bogen von den alten Griechen über Marx und Keynes bis in unsere Tage zu spannen, sei der Versuchung nicht widerstanden, doch auch noch aus einem heutigen Bestseller zu zitieren. Peter von Matt schreibt in seinem herrlichen Buch «Die Intrige» über Ben Jonsons «Volpone, or The Fox», dieser hebe an «zu einem Hymnus auf das Gold, die Seele der Welt», und erkläre «das Gold zum Sinn des Lebens schlechthin ... Tugend, Ruhm und Ehre ... rutschen hier ab zu einer reinen Funktion des ökonomischen Besitzes. Wer Geld hat, ist auch tugendhaft, angesehen, weise, vornehm, tapfer; wer keins hat, ist ein Wesen ohne Glanz und Respekt, dumm, plebejisch, feig und faul. Die wahnsinnigen Exzesse des Kapitalismus im 21. Jahrhundert, wo Manager vergoldet werden wie die Esel im Märchen, sind hier vorgebildet und vorausgedacht» (S. 307).

Die Moral der Geschichte von dieser politischen Psychopathologie der Abzockerei in einem wild gewordenen Kapitalismus lautet für einen kritischen, mit der Geschichte der Kapitalismustheorie vertrauten Geist: Das Es hat Adam Smiths angeblich so segensreicher, für eine gerechte Verteilung der Güter sorgenden «unsichtbaren Hand» das Steuer aus den Händen gerissen, es triumphiert frohlockend über das Über-Ich und verjagt aus dem Ich die letzten Ahnungen einer Aufklärung, der es, nach Kant, um den «Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit» ging.


Arnold Künzli ist emeritierter Professor für Philosophie.