Libanon: Schachspiel mit Bauernopfern

Nr. 29 –

Der kriminelle Angriff der Hisbollah auf Israel liefert der israelischen Führung einen ausgezeichneten Vorwand für einen Krieg, den seine Generäle seit langem wollen.

Ist es vielleicht ein Schachspiel, und die grossen Buben spielen mit dem Blut und Leben der einfachen Leute?

Nach der Ermordung des ehemaligen libanesischen Ministerpräsidenten Rafik Hariri im Februar 2005 kam die syrische Besetzung Libanons fast zu einem Ende, und die syrisch protegierte Hisbollah verlor ihre vorherrschende Stellung in der libanesischen Gesellschaft. Israel hatte sich im Jahr 2000 aus dem Südlibanon zurückgezogen. Seine Okkupation hatte für die Hassgefühle gesorgt, die die Hisbollah brauchte.

Seit Wochen brennt Gasa nun schon. Der Tod zweier israelischer Soldaten und die Entführung eines dritten, Gilad Shalit, waren das Fanal für die massive israelische Militäraktion gegen die PalästinenserInnen. Deren wichtigstes Ziel: der Sturz der Hamas-Regierung. Die offizielle Rechtfertigung: die Entführung sowie die Beschiessung der israelischen Zivilbevölkerung aus dem Gasastreifen mit Kassam-Raketen.

Die militärische Reaktion Israels im Gasastreifen erfolgte unmittelbar nach der Militäroperation einiger Hamas-Mitglieder - einer dummen Provokation von Hardlinern, die von Syrien unterstützt werden. Sie richtete sich nicht nur gegen Israel, sondern auch gegen den palästinensischen Präsidenten Mahmud Abbas und den gemässigten Hamas-Flügel unter der Führung von Regierungschef Ismail Haniya. Heute lebt die Hälfte der palästinensischen Bevölkerung ohne Strom und die meiste Zeit ohne Wasser. Die Situation im Gasastreifen ist schrecklich, die israelischen Bomben, Granaten, Panzer, Artilleriegeschosse und die Luftwaffe terrorisieren die ganze Bevölkerung - und wir in Israel haben immer noch die Kassam-Raketen, und Gilad Shalit ist immer noch in Gefangenschaft.

Die Gelegenheit genutzt

Die Hisbollah hat beschlossen, diese Gelegenheit zu nutzen. Sie kidnappte israelische Soldaten, um, so die offizielle Rechtfertigung, palästinensische Gefangene freizubekommen. Mit der Rückendeckung und den Waffen Syriens und vor allem des Iran, wurde sie von der israelischen Überreaktion überrascht. Wusste sie nicht, dass sie der israelischen Regierung den notwendigen Vorwand für einen Krieg lieferte, den einige unserer besten Generäle seit Jahren anstreben?

Die israelische Reaktion folgt, ähnlich wie im Gasastreifen, der simplen Logik: jetzt ist die Zeit der Bomben, nicht der Worte. Nichtsdestotrotz wendet die israelische Führung viele heuchlerische Worte der Entschuldigung auf für eine Militäraktion, die Tod und Zerstörung über den Libanon bringt. «In den letzten Wochen haben unsere Feinde die Souveränität Israels und die Sicherheit seiner Bewohner herausgefordert», sagte der Regierungschef, Ehud Olmert, im Parlament. «Israel hat die Konfrontation nicht gesucht, im Gegenteil. Wir haben viel getan, um sie zu verhindern. Wir sind in die Grenzen des Staates Israel zurückgekehrt, wie sie von der internationalen Gemeinschaft anerkannt werden. Einige haben unser Verlangen nach Frieden für uns und unsere Nachbarn, unseren Willen zur Zurückhaltung als ein Zeichen der Schwäche missverstanden. Wir hegen keinerlei Absicht, in interne Angelegenheiten einzugreifen. Im Gegenteil, Stabilität und Ruhe im Libanon - frei von fremden Mächten - und in der palästinensischen Behörde sind im Interesse Israels.»

Das Problem ist, dass die israelische Regierung versucht, die demokratisch gewählte palästinensische Regierung zu zerstören und im Libanon eine neue Marionettenregierung zu installieren, ähnlich wie 1982. Und dass Olmert, wie schon sein Vorgänger Ariel Scharon, unilateral vorgeht. Mehr noch: Als Israel den Gasastreifen räumte, wurde dieser ein riesiges, von aussen kontrolliertes Gefängnis. Der einseitige Rückzug war der Prolog zu einer erweiterten Unterdrückung palästinensischer AktivistInnen in der Westbank, und Scharon wie Olmert lehnten es ab, mit Abbas oder anderen PalästinenserInnen zu sprechen. Sie schufen damit eine Stimmung, deren logische Folge der Wahlsieg der Hamas war.

Gasa vergessen

Seit 2000 heisst die offizielle israelische Position, dass es keinen Partner für den Frieden gebe. Wenn jemand Gespräche sucht, passt er den israelischen Ansprüchen nicht. Dank dem Angriff der Hisbollah können wir nun vergessen, was in Gasa geschieht, denn unsere Augen richten sich auf den Libanon.

Die Hisbollah spielt das Spiel anderer, und es sieht danach aus, dass nun sogar der Iran «Stopp!» ruft. Hisbollah-Chef Nasrallah und seine iranischen Partner scheinen die Dimension der israelischen Reaktion falsch eingeschätzt zu haben.

Unterdessen versuchen unsere Generäle, frühere «Fehler» mit noch mehr Bomben, Blut und Zerstörung zu korrigieren - dieselben Generäle, die während einer ganzen Generation zur israelischen Besetzung des Libanon im Jahr 1982 beitrugen, zu den Tötungen, Misserfolgen und der Tragödie eines achtzehnjährigen Kriegs. Dank der abenteuerlichen Angriffe der Hisbollah gegen die israelische Bevölkerung geniesst ihre Überreaktion gegen den Libanon beinahe einmütige Unterstützung. Hunderte LibanesInnen werden getötet - nur eine Minderheit davon sind Hisbollah-Mitglieder - und die Infrastruktur des Landes systematisch zerstört, «um ihnen den Weg zur Lösung zu zeigen».

Die Gelegenheit ist gut, die PalästinenserInnen in George Bushs «Achse des Bösen» zu drängen: «Die Kampagne, die wir dieser Tage führen», sagte Olmert, «richtet sich gegen die Terrororganisationen, die vom Libanon und von Gasa aus operieren. Diese Organisationen sind inspiriert, angestiftet und finanziert von Regierungen, die Terrorismus fördern und Frieden ablehnen, auf der Achse des Bösen, die sich von Damaskus bis Teheran erstreckt.»

Der Angriff der Hisbollah - ein krimineller Akt im Dienst der innenpolitischen Interessen der Hisbollah und der Interessen Syriens und des Iran - hat Israel einen ausgezeichneten Vorwand für eine kriminelle Militäroperation geliefert, die hilft, die PalästinenserInnen zu vergessen oder, schlimmer, ihre nationalen Ansprüche zu delegitimieren.

Kein Friede auf dieser Basis

Mit einer Politik, die auf Gewaltanwendung und unilateralen Schritten basiert, die Verhandlungen ablehnt und dadurch die legitimen Rechte der PalästinenserInnen negiert, kann kein echter Friede erreicht werden. Eine Zweistaatenlösung, wohl der einzig mögliche Kompromiss für die Lösung eines hundertjährigen Konflikts, kann nicht einseitig von den Israeli erreicht werden, die unter einem palästinensischen Staat einige Bantustans unter ihrer Kontrolle verstehen. Die Zerstörung des Libanon kann keine Grundlage für eine Friedenslösung sein. Angesichts der dramatischen Eskalation des militärischen Konflikts und der Blindheit der Führung kann wohl nur eine internationale Vermittlung einen Waffenstillstand bringen, der vielleicht zu einer neuen Verhandlungsrunde führt.

Die libanesische Hisbollah

Vor wenigen Monaten führte Hussein Nabulsi noch stolz durch das Hisbollah-Hauptquartier im Süden Beiruts, das heute in Schutt und Asche liegt. «Zu Beginn waren wir nur etwa hundert», erklärte damals der Pressechef der Hisbollah. «Heute sind wir hunderttausende.»

Die schiitische Hisbollah hat sich seit ihrer Gründung 1982 zur grössten Volksbewegung im Libanon und zu einem Machtfaktor im Nahen Osten gemausert. Sie unterhält ein soziales Netzwerk von Schulen, Spitälern und andern Einrichtungen, ohne die das Sozialsystem des Libanon zusammenbräche. Die Propagandaabteilung unterhält eine Radiostation, einen Fernsehsender und Internetauftritte. Eine Computerabteilung bringt die Kriegsspiele auf den Markt.

Im Jahr 2000 musste Israel wegen hoher Verluste aus dem besetzten Südlibanon abziehen. In der ganzen arabischen Welt feierte man die Hisbollah als die Siegerin, die Israel die erste Niederlage eingebracht hatte. Hauptsächlich durch die finanzielle und logistische Unterstützung des Iran wurde die Hisbollah zum Staat im Staat. Sie kontrolliert den gesamten Südlibanon, in dem die meisten der 1,2 Millionen Schiiten des Landes leben.

Im libanesischen Parlament sitzen zwar nur neunzehn Hisbollah-Abgeordnete, aber der militärische Flügel macht die grosse Politik. 20 000 im Iran ausgebildete Soldaten sollen permanent mit Waffen ausgerüstet sein, dazu kommen bis zu 60 000 geschulte Reservisten. In den unterirdischen Arsenalen im ganzen Libanon dürften 50 000 Raketen liegen, die zum grossen Teil aus dem Iran via Syrien geliefert wurden, darunter vermutlich auch solche, die Tel Aviv erreichen können. Von einer Entwaffnung, wie sie die Resolution 1559 des UN-Sicherheitsrates fordert, will die Hisbollah nichts wissen. Die libanesische Regierung unter Fuad Siniora versuchte bisher vergeblich, auf dem Verhandlungsweg eine Lösung zu finden.

Das Kabinett Fuad Siniora wurde von den jüngsten Ereignissen überrollt und zum Statisten degradiert. Siniora bat die Uno um Unterstützung zur Kontrolle der Hisbollah. Walid Dschumblat, der Vorsitzende der Progressiven Sozialistischen Partei, sprach von einem «iranischen Stellvertreterkrieg, in den der Libanon unfreiwillig gezwungen wurde.»

Die Hisbollah hat bereits im Jahr 2000 drei Soldaten der israelischen Armee entführt. 2004 wurden knapp 500 palästinensische und libanesische Gefangene dafür ausgetauscht. Die Hisbollah rechtfertigt ihre militärischen Aktionen mit dem Hinweis auf die von den Israelis besetzten Scheba-Farmen, die früher zu Syrien gehörten, aber als libanesisches Territorium gelten. Mit dem Beschuss israelischer Städte und Zivilisten will sie Verhandlungen erzwingen - bereits 1996 hatte sie mit dieser Strategie Erfolg. Damals wurde ein Abkommen mit Israel geschlossen, sämtliche Zivilisten aus den Kampfhandlungen auszuschliessen. Sollten derartige Verhandlungen auch diesmal gelingen, wird Hassan Nasrallah, der Generalsekretär der Hisbollah, tatsächlich zum grossen Führer des Libanon und der gesamten arabischen Welt, für den er sich dieser Tage bereits ausgibt. Bei einem Fernsehauftritt sprach er davon, dass die Hisbollah in der Lage sei, «die einmalige historische Chance zu nutzen, Israel endlich zu besiegen».

Alfred Hackensberger