Wissenschaftsstandorte (14): Studieren unter Besatzung

Nr. 32 –

Drei Universitäten gibt es im Gazastreifen. Der Alltag ist hart, die Forschungsfreiheit wegen der politischen Lage nur teilweise gewährleistet.

Besucht man die Website einer Universität, findet man in der Regel auf der Startseite einen Hinweis zu neuesten Forschungserfolgen. Und oft, weil das ein Faktor im internationalen Standortwettbewerb ist, Bilder vom schönen Campus. Auf der (englischen) Startseite der Islamischen Universität Gasa sind auch Bilder zu sehen, Bilder von Trümmern. Sowie die Schlagzeile «Die israelischen Kampfflugzeuge bombardieren die Islamische Universität».

Die Situation der Universitäten in Gasa gibt einen Ausschnitt dessen wieder, was der Alltag in der Besatzungsrealität bedeutet. Seit dem Osloer Friedensabkommen (1993) sind StudentInnen aus dem Gasastreifen gezwungen, entweder ins Ausland zu gehen oder in Gasa selbst zu studieren. Der Zugang ins palästinensische Westjordanland, wo es acht palästinensische Universitäten gibt, ist nicht mehr gewährleistet und allenfalls noch illegal möglich, immer unter dem Risiko, von der israelischen Armee entdeckt und nach Gasa zurückgeschafft zu werden. Seitdem ist ein regelrechter Boom in der universitären Entwicklung in Gasa zu beobachten. Dort befinden sich inzwischen, auf engstem Raum und in direkter Nachbarschaft, drei Universitäten: die Islamische Universität, gegründet 1978, die Al-Ashar-Universität, gegründet 1991, und die ehemalige Pädagogische Hochschule, die 2001 in eine staatliche Universität umgewandelt wurde.

«Fatah-» gegen «Hamas-Uni»

Schon die Gründung der Islamischen Universität (IUG) war eine Reaktion auf die spezifischen Probleme der StudentInnen aus der Region. Immer wieder hatte es Massenausweisungen von palästinensischen StudentInnen aus Ägypten gegeben, vor allem in politisch angespannten Perioden wie etwa dem Beginn des in der arabischen Welt sehr umstrittenen Camp-David-Prozesses im Gründungsjahr der IUG. Die Rechnung dafür zahlten als Erste die StudentInnen aus Gasa.

Vor diesem Hintergrund kam es zu der Entscheidung, dass in Gasa eine palästinensische Universität aufgebaut werden sollte. Ursprünglich von einem von der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) und Muslimbrüdern angeführten Komitee unter der Schirmherrschaft von PLO und Jassir Arafat gegründet, kam die Islamische Universität im Verlauf der achtziger Jahre zusehends unter die alleinige Kontrolle der Muslimbrüderschaft in Gasa (aus der heraus später die Hamas-Bewegung entstand). Die PLO musste diese Entwicklung zähneknirschend akzeptieren und gründete schliesslich 1991 direkt neben der IUG mitten in der Stadt Gasa eine neue Universität, die Ashar-Universität, die bis heute unter der vollständigen Kontrolle der PLO respektive ihrer herrschenden Fraktion, der Fatah, steht.

Das Ergebnis war nicht ein für beide Universitäten produktiver Wettstreit und auch keine abgesprochene Aufgabenteilung, sondern ein harter Konkurrenzkampf zwischen einer «Fatah-» und einer «Hamas-Universität» - auch wenn beide Universitäten sich in ihrer Selbstdarstellung politisch unabhängig nennen. Während die Fatah sämtliche relevanten Entscheidungen für die Al-Ashar-Uni fällt - und dies nicht immer im Interesse der Universität und auf der Basis akademischer Kriterien -, steht die IGU unter dem Einfluss der Hamas, was politische und programmatische Entscheide angeht; sie ist aber in akademischen Belangen autonom.

Internationale Kooperation

Über die Jahre gelang es deshalb der Islamischen Universität, sich als die beste Universität im Gasastreifen zu etablieren, zuerst und vor allem in den natur- und ingenieurwissenschaftlichen Fächern. Hier wird teilweise ein sehr hohes Niveau erreicht. Die Labors sind relativ gut ausgerüstet, und die Ausrüstung wird auch - was nicht an allen palästinensischen Universitäten der Fall ist - für Forschung und Lehre effektiv eingesetzt. Eine Reihe von ProfessorInnen der Universität erhielt prestigeträchtige internationale Stipendien oder konnte arabische Wissenschaftspreise gewinnen. Die Graduierten der Universität können Jahr für Jahr die Mehrzahl der für Gasa angebotenen Stipendien internationaler Stipendienorganisationen für sich holen, sei es zu einem Magister- oder Doktoratsstudium in Europa oder in den USA, vor allem in den verschiedenen ingenieurwissenschaftlichen Spezialgebieten oder in den Naturwissenschaften. International geförderte Forschungsprojekte finden in Kooperation mit arabischen und europäischen Universitäten an der Islamischen Universität statt, punktuell auch an der Ashar-Universität.

Al-Ashar leidet allerdings seit Jahren unter einem schlechten Management und unter all den Übeln, unter denen die gesamte Palästinensische Autonomiebehörde seit ihrer Etablierung in den besetzten palästinensischen Gebieten leidet: Vetternwirtschaft, Korruption, «Faustrecht» in akademischen Angelegenheiten. Im Winter 2004 wurde der gerade neu eingesetzte und akademisch hervorragende Präsident der Universität aus rein politischen Gründen geschasst; die Belange der Universität standen hintan.

Schwache Hoffnungsschimmer

Die Sozial- und Geisteswissenschaften sind sicher das grösste Problem an den Universitäten in Gasa, trotz zum Teil hervorragender akademischer Lehrer. Ambitionierte Sozial- und GeisteswissenschaftlerInnen haben deshalb oft keine andere Wahl, als den Gasastreifen zu verlassen: Es gibt keine auch nur annähernd ausreichenden Bibliotheken. Einige WissenschaftlerInnen versuchen, das Manko an zugänglicher Literatur durch die Teilnahme an Konferenzen wettzumachen oder selbst Konferenzen zu veranstalten - wenn sie es überhaupt schaffen, an die Konferenzen zu reisen, beziehungsweise wenn die eingeladenen Gäste aus dem Ausland einreisen dürfen. Die Freiheit von Forschung und Lehre in den Geistes- und Sozialwissenschaften, aber auch in allen anderen Fächern ist damit, zuerst und vor allem wegen der Besatzung und der von ihr den PalästinenserInnen aufgezwungenen Bedingungen, nicht gewährleistet.

Die Al-Aksa-Universität schliesslich ist nach ihrer Umwandlung im Grunde eine pädagogische Hochschule geblieben und auf die LehrerInnenausbildung ausgerichtet. Immerhin lehren hier auch einige renommierte GeisteswissenschaftlerInnen, und der Präsident, ein international angesehener Chemiker, setzt sich für die Forschung ein. Hinter dem Hauptproblem der Region, der israelischen Besatzung respektive dem israelischen Krieg gegen die PalästinenserInnen, sind das schwache Hoffnungsschimmer für die Zukunft.

Erstaunlicher Elan

Und auf eine solche Zukunft hoffen die Studierenden in Gasa, unter welchen immer wieder die grosse Begeisterung auffällt, mit der sie studieren, lernen, forschen. Internationale Stipendienorganisationen sind nach Interviews mit jungen BewerberInnen immer wieder von Neuem erstaunt, mit welchem Elan diese sich ihrer Wissenschaft widmen. In Jordanien, wo viele Studierende aus Gasa ihr Masterstudium absolvieren, gehören sie regelmässig zu den Besten. Die Mehrzahl von ihnen kehrt nach dem Studium in Europa oder den USA - wo sie ebenfalls immer wieder durch hervorragende Leistungen auffallen, in den Gasastreifen zurück, um hier zu arbeiten oder an der eigenen Alma Mater zu lehren.

Doch eine Entwicklung der letzten Jahre schockiert die BesucherInnen der Gasa-Universitäten: Die StudentInnen, siebzehn oder achtzehn Jahre alt bei Studienbeginn, wirken um Jahre älter, als sie sind; der Krieg hat ihre Gesichter gezeichnet. Strahlende junge Gesichter, die sich mit Freude und Spannung auf weitere akademische Herausforderung, etwa auf ein Auslandsstudium, vorbereiten, die glänzenden Augen dieser halben Kinder, sie sind sehr selten geworden.

Helga Baumgarten lehrt Politologie an der palästinensischen Universität Bir Seit in der Westbank. Sie schreibt regelmässig für die WOZ.

Serie Wissenschaftsstandorte

Welche Rolle spielt der Standort im Zeitalter von Internet und E-Learning für die Wissenschaft? Wie funktioniert Wissenschaft anderswo? Bisher erschienen: Basel (WOZ Nr. 3/04); Sarajevo (Nr. 9/04); Berlin (Nr. 16/04); Moskau (Nr. 20/04); Wissenschaft im Cyberspace (Nr. 28/04); Das ETH-Projekt Science City (Nr. 34/04); Princeton (Nr. 47/04); Lesotho (Nr. 50/04); Bangladesch (Nr. 5/05); Oxford (Nr. 22/05); Berkeley (Nr. 45/05), Kairo (Nr. 49/05), Luzern (Nr. 5/06).

Die Universitäten

Islamische Universität, Gaza
• Gegründet 1978
• Zahl der StudentInnen: etwa 17000
• Fakultäten: Geistes-, Natur-, Ingenieur-, Erziehungswissenschaften, Pflegeberufe, Islamisches Recht, Grundlagen der Religion, Wirtschaft
• Forschungsschwerpunkte: Umwelt (vor allem Wasser, Abwasser etc.), Informationstechnologie
http://www.iugaza.edu.ps/eng/

Al-Ashar-Universität, Gaza
• Gegründet 1991
• Zahl der StudentInnen: 12000
• Fakultäten: Geistes-, Natur-, Erziehungswissenschaften, Landwirtschaft, Informationstechnologie, Pharmazie, Medizin, Wirtschaft
www.alazhar-gaza.edu

Al-Aksa-Universität, Gaza
• Gegründet 2001 als einzige staatliche Universität in Palästina
• Zahl der Studenten: über 10000
• Fakultäten: Geistes- und Naturwissenschaften (vor allem Mathematik, Physik, Chemie), Erziehungswissenschaften, Medien, Kunst
www.alaqsa.edu.ps