Die arabische Dimension: Die Angst der Regimes

Nr. 33 –

Die arabische Welt schaute diesem Krieg zu. Heute fühlen sich die meisten AraberInnen als SiegerInnen. Zu Unrecht, denn der militärisch erfolgreiche Kampf der Hisbollah zeigte bloss die arabische Verwirrung und Ratlosigkeit.

Der arabische Satellitensender al-Dschasira nennt den Krieg zwischen Israel und der libanesischen Hisbollah den «Sechsten Arabischen Krieg gegen Israel». Damit soll der Krieg in einen grösseren, panarabischen Zusammenhang gestellt werden. Das ist von Bedeutung, denn die Staatschefs von drei arabischen Ländern - Jordanien, Ägypten und Saudiarabien - stellten sich zu Beginn des Krieges gegen die Hisbollah. Sie hatten ihr vorgeworfen, den Libanon und die ganze Region in einen neuen Krieg zu ziehen - im Dienste einer fremden Macht (gemeint war Iran).

Die meisten arabischen Regimes fürchten sich vor einem schiitischen «Revival»; sie sehen sich bedroht durch den schiitischen Iran, durch die SchiitInnen im Irak und nun auch durch die schiitische Hisbollah. Doch es wäre falsch, dies als religiösen, sunnitisch-schiitischen Konflikt zu interpretieren. Die Angst der Regimes ist politisch. Sie fürchten die SchiitInnen so, wie sie in den Sechzigern und Siebzigern die KommunistInnen gefürchtet hatten, und so, wie sie sich immer noch vor der - sunnitischen - Muslimbruderschaft fürchten. Die arabischen Regimes tendieren heute dazu, sich bereitwillig dem US-amerikanischen und israelischen Diktat unterzuordnen. Alles, was sie unternehmen, muss zuerst mit dem Weissen Haus geklärt werden.

Am besten lassen sich Haltung und Geisteszustand der heutigen arabischen Führer anhand der Reden und Positionen des palästinensischen Präsidenten Mahmud Abbas verstehen. Kurz nachdem Abbas letztes Jahr die Präsidentschaftswahl gewonnen hatte, gab er dem arabischsprachigen iranischen Nachrichtensender al-Alam ein Interview. Abbas sprach unmissverständlich. Auf die Frage nach dem Widerstand und der Zukunft Palästinas antwortete er: «Wir können nicht gegen Israel kämpfen. Wenn die Araber sagen würden, sie können gegen Israel kämpfen, dann könnte ich das auch sagen. Aber heute können wir nicht kämpfen, wir können keinen Widerstand leisten. Also müssen wir verhandeln.» Kapitulieren, heisst das übersetzt. Wenn Abbas heute von Verhandlungen spricht, geht es um die Preisgabe der zentralen Punkte dessen, was Palästina ausmacht. Nach einer langen Geschichte von Kampf und Widerstand bleibt uns PalästinenserInnen einzig ein Versprechen von George Bush für einen Staat Palästina. Abbas erwartet vom US-Konsulat in Jerusalem viel mehr als von den PalästinenserInnen. Nicht, dass er das böse meint; er ist bekannt als gradliniger und ehrlicher Mensch. Doch das ist sein Geisteszustand. So denkt er, und das liegt zum Teil daran, dass die anderen arabischen Führer auch so denken.

«Friede» ist die definitive strategische Wahl der arabischen Führer. Und «Friede» heisst: Kein Krieg mit Israel, keine israelische Invasion in ihre Länder. «Friede» ist wie ein ärztliches Rezept: Nimm ihn, und es geht dir gut. Niemand hat vom ägyptischen Präsidenten Hosni Mubarak verlangt, in diesen Krieg einzugreifen oder gar mitzukämpfen. Doch er sagte von sich aus, dass Ägypten nicht um des Libanon Willen gegen Israel kämpfen könne. Und der saudische Aussenminister machte von Anfang an klar, dass seine Regierung Erdöl nicht als Waffe einsetzen werde. Im Gegenteil: Saudiarabien wolle die Ölversorgung und einen stabilen Preis sichern.

Warum also nennt al-Dschasira diesen Krieg trotzdem einen arabischen Krieg? Wo doch wichtige Mächte in der Region sich heraushalten, und schon gar nicht die Hisbollah unterstützen? Was ist der panarabische Hintergrund, wenn einzig Syrien sich - verbal - an die Seite der Hisbollah stellt und eine gewisse Bereitschaft zeigt, zu kämpfen, falls es selber angegriffen würde? Was ist «arabisch» an diesem Krieg, wenn eine ideologisch ausgerichtete Guerilla, die hauptsächlich von NichtaraberInnen, nämlich dem Iran, aufgerüstet wurde, alleine gegen Israel kämpft? Was ist arabisch, wenn die grossen Antikriegsdemonstrationen ausserhalb der arabischen Welt stattfinden?

Dieser Krieg hat gezeigt, wie sehr die arabischen Regimes besiegt sind. Wie unfähig und unwillig sie sind. Wenn einige tausend Guerilleros über einen Monat gegen Israel kämpfen und der stärksten Armee der Region schliesslich einige Bedingungen aufzwingen können, trauen sich die AraberInnen zu fragen, was all die Milliarden US-Dollar, die für die nationalen Armeen ausgegeben wurden, eigentlich sollen. Doch was die meisten AraberInnen heute glauben, stimmt nicht. Israel wurde in diesem Krieg nicht besiegt. Die israelische Militärmaschinerie kann immer noch und jederzeit in jeder arabischen Stadt zuschlagen. Israel besetzt Palästina immer noch und hält drei Millionen PalästinenserInnen als Geiseln. Es zerstört Gasa und verwandelt die Westbank in zugemauerte kleine Ghettos. Könnte ein besiegtes Israel das alles tun?

Die Hisbollah zeigte uns PalästinenserInnen, wie verwirrt wir sind. Verwirrt, und beinahe ziellos. Sonst wären wir heute nicht so weit unten. Wir sind doppelt eingesperrt. Zum einen durch die israelische Besetzung, zum andern durch unsere eigenen Illusionen. Illusionen über Frieden und Illusionen über Krieg. Für uns PalästinenserInnen funktioniert beides nicht. Unsere Art des Friedens erwies sich als selbstmörderisch. Unsere Art des Kriegs noch viel mehr.

Es stimmt, dass Israel diesen Krieg nicht gewonnen hat. Es hat seine Ziele nicht erreicht, und das übertriebene israelische Selbstbewusstsein wurde der Realität ausgesetzt. Doch verloren hat Israel den Krieg auch nicht. Die Hisbollah hat ihn ebenfalls nicht verloren. Sie hat bewiesen, dass eine gut bewaffnete und organisierte Miliz gegen die mächtigste Armee kämpfen kann. Und weil sie den Krieg nicht verloren hat, hat sie ihn gewonnen - weil sie nicht mit einem Streich zerschlagen wurde, wie sich das israelische PolitikerInnen vorgestellt hatten.

Meine FreundInnen in verschiedenen arabischen Ländern denken, dass das ein Sieg der «arabischen Massen» sei. Das glaube ich nicht. Denn Massen waren nie wichtig, bloss weil sie Massen sind. Nur wenn sie in den Lauf der Geschichte eingreifen, werden sie bedeutend. Und bis zu jenem Moment, wenn die arabischen Massen selber eingreifen und einen Wechsel bewirken, bleiben sie einfach Massen, unbedeutende Massen.


Der palästinensische Filmemacher Subhi al-Zobaidi schreibt regelmässig für die WOZ.