Walliser Wanderungen: Lenis Weg auf die Alp

Nr. 35 –

Ob im Talboden oder oberhalb der Baumgrenze - der literarische Wanderführer aus dem Rotpunktverlag macht Vorschläge für leichte Treter und schwere Stiefel.

Das Wallis ist sozusagen das steilere Bündnerland. Die Berge sind höher, die Gegensätze schroffer. Unten im Tal brennt die Sonne mit mehr als dreissig Grad, keine zehn Kilometer Luftlinie entfernt stehen die Viertausender wie zu einer Kette gefädelt. Ab Brig macht sich der Westschweizer Einfluss bemerkbar, weite Teile des Talbodens sind ohne Rücksicht auf Verluste verschandelt. Oberhalb von Sierre stehen Hochhäuser am Hang und geschwulstartig angewachsene Riesenchalets. Viele Zweitwohnungen werden hier verkauft an Leute, die irgendwie ihr Geld loswerden müssen. Verbier ist auch ein Albtraum, ebenso Nendaz. Aber dann steigt man in Seitentäler, die sich dem Massentourismus verschlossen haben wie das tief in die Südalpen eingeschnittene Val d’Hérens mit dem Hauptort Evolène.

Für viele Menschen aus dem Osten des Landes ist das Wallis wohl - auch wegen der langen Anreise - noch eine Terra incognita. Wenn im Sommer 2007 der Lötschberg-Basistunnel in Betrieb geht, verkürzt sich die Reisezeit um eine Stunde. Und dann könnte das Wallis auch vermehrt für Leute aus Zürich und St. Gallen zu einer Reisedestination werden. Nicht nur für sie hat der Rotpunktverlag ein attraktives Buch im Sortiment: den von Michael T. Ganz und Dominique Strebel herausgegebenen literarischen Wanderführer «Dies Land ist masslos und ist sanft». Was wie eine schwülstige Sprachmarotte aussieht, ist ein Zitat von Rainer Maria Rilke. Wer im deutschen Sprachraum das Wallis mit Poesie verbindet, der denkt zuerst an ihn, der die letzten Jahre - dank reichen Gönnern - oberhalb von Sierre verbrachte. Von dort aus konnte er über den Pfynwald - die Sprachgrenze - bis nach Raron sehen, wo er einst, wie die Sage geht, als unehelicher Sohn eines lokalen Patriziers geboren worden sein soll.

Die Wanderung von Sierre nach Raron unter kundiger Führung der Journalistin Isabel Morf ist eine von insgesamt 25 im Buch versammelten literarischen Entdeckungsreisen zwischen St-Maurice und dem Furkapass. Sie verfolgen nicht nur die Wege grosser Namen wie Rilke oder Johann Wolfgang Goethe, Mark Twain, Charles Ferdinand Ramuz und Carl Zuckmayer, sondern machen sich auch auf die Spuren lokaler Grössen wie des Walliser Nationaldichters Maurice Chappaz, des Comicautors Cosey, des Rhonepoeten Pierre Imhasly und von Adeline Favre, der Hebamme aus dem Val d’Anniviers. Ihnen zu folgen, bedeutet einen grossen Teil des Wallis zu durchwandern, mal sanft im Tal, mal in steilen Bergen.

Dabei sind alte Orte und alte Geschichten zu entdecken. Wer weiss noch, dass Anfang der dreissiger Jahre das Dorf Randonnaz ob Fully im Unterwallis dem Erdboden gleichgemacht und die BewohnerInnen ins Tal umgesiedelt wurden? Wo Randonnaz war, entstand eine Kuhalp. Und wer weiss noch, dass dieser Gewaltakt - auch wenn er mit der Einwilligung der Bevölkerung geschah - tiefe Wunden bei den Betroffenen hinterliess? Der Walliser Schriftsteller Maurice Zermatten, später vor allem wegen seines scharfen antikommunistischen Tons in der welschen Übersetzung des Zivilschutzbüchleins bekannt geworden, bekam als junger Mann das Geschehen hautnah mit und hat dem Ende des Dorfes in seinem Buch «A l’Est du Grand-Couloir» ein Denkmal gesetzt - bestürzt über die rücksichtslose Art, wie die neue Zeit mit den gewachsenen Strukturen verfährt.

Oder der Bau der Grande-Dixence-Staumauer im Val d’Hérens - ein technisches Pyramidenwerk in einem Seitental in der Nähe von Sion. Zwischen 1951 und 1966 wurde hier eine der grössten Staumauern Europas aufgeschichtet. Das benötigte Material wurde ohne Rücksicht auf die Landschaft aus den Berghängen des Seitentales herausgebrochen. Gleich zwei Schriftsteller beschrieben den Kraftakt: der welsche Maurice Chappaz, schwankend zwischen Bewunderung über die technische Meisterleistung und Zweifeln an ihrer Rücksichtslosigkeit, und der Zürcher Schriftsteller Walter Matthias Diggelmann, der sie als Kulisse für Verschwörungen und Verfolgungsjagden benutzte. Sachkundig führt der Journalist Jürg Frischknecht, ein Kenner der Schweizer Kraftwerkszene, durch diese geografische und literarische Landschaft. Seine dreitägige Wanderung von Arolla nach Fionnay im Val de Bagnes ist notabene eine der anspruchsvollsten im Buch.

Oder wer kennt das Leben von Leni, die alljährlich aus der Gondoschlucht aufstieg auf Maiensässen und Alpen? Pierre Imhasly hat sie im Buch «Leni - Nomadin» hymnisch besungen. Gelungener als seine Texte sind allerdings die eindrücklichen Fotos von Renato Jordan. Leni ist inzwischen hochbetagt gestorben, aber wer sich auf der Südseite der Simplonstrasse absetzt und über einen Fahrweg an Höhe gewinnt, findet diese Landschaft auf der Südseite der Alpen unverändert vor - und im Walliser Marco Volken einen kundigen Führer.

Das Buch trägt diese Geschichten auf 400 reich bebilderten Seiten zusammen. Für jede Wanderung gibt es ausführliche Quellenangaben und Wandertipps - wie man das von Wanderbüchern aus dem Rotpunktverlag gewohnt ist.

Michael T. Ganz und Dominique Strebel (Hrsg.): Dies Land ist masslos und ist sanft. Rotpunktverlag. Zürich 2006. 400 Seiten. 42 Franken