Temporärjobs: Strampeln ohne Aussicht

Nr. 38 –

Rund die Hälfte der 178000 ZeitarbeiterInnen in der Schweiz kennt vor allem eines: unsichere Arbeitsbedingungen und keine Chance auf Aus- und Weiterbildung. Das scheint auch die Gewerkschaften nicht sonderlich zu interessieren.

42 verschiedene Jobs in vier Jahren: Emrah Kilic hat einen ruppigen Einstieg ins Berufsleben hinter sich. «Ich wollte eine normale Laufbahn einschlagen», sagt der 22-Jährige. «Schule, Lehre, eine feste Stelle und später vielleicht die eigene Firma.» Der Plan schlug fehl. «Ich hatte Pech mit meinem Lehrmeister, und meine schulischen Leistungen liessen zu wünschen übrig», erzählt der Aargauer über seinen vorzeitigen Lehrabbruch als Industriespengler.

Seither jobbt er temporär: als Maler, Gipser, Lagerist, Gärtner, Bäcker. Zurzeit bearbeitet er Wellblechprofile bei Montana Stahl in Villmergen AG. Fast kein Einsatz dauert länger als zwei oder drei Wochen. Eine Integration in einen Betrieb ist so nicht möglich. Bei internen Weiterbildungsprogrammen kommen temporär Arbeitende nie zum Zug. Die einzigen Weiterbildungen, die Kilic in seiner beruflichen Laufbahn bekommen konnte, organisierte das Regionale Arbeitsvermittlungszentrum: Er absolvierte die Lageristenprüfung und lernte das Staplerfahren. Während gleichaltrige Berufsleute bereits auf dem Weg sind, sich zu spezialisieren, stellt Kilic illusionslos fest: «Mein Lebenslauf gibt nichts her.» Trotzdem bleibt der Jungarbeiter fleissig, lässt sich für einen kleinen Lohn von einer Stelle zur nächsten vermitteln. Doch die Plackerei bringt ihn nicht voran. Für Aus- oder Weiterbildung fehlen Zeit und Geld. Trotz zahlloser Enttäuschungen und leerer Versprechen kann Kilic nur weiter auf eine Festanstellung hoffen.

Die Hoffnung aufgegeben hat Erich Wermelinger. Mit 47 Jahren ist er ein Routinier unter den TemporärarbeiterInnen. Seit zwanzig Jahren saniert der gelernte Koch auf Abruf Flachdächer, baut Fassaden oder installiert Lüftungs- und Sanitäranlagen. «Die fachlichen Kenntnisse habe ich mir alle selbst angeeignet», erzählt er. «Mein Vermittler weiss, was ich kann. Ich bin selten mehr als ein paar Tage frei zwischen zwei Einsätzen.» Auch Wermelinger hoffte mehrfach auf eine feste Anstellung. Versprechungen gab es viele, doch konkrete Angebote sind dann immer ausgeblieben. «Ich habe nie eine Chance bekommen», sagt er, ohne sein Schicksal zu beklagen: «Immerhin bringt die Temporärarbeit auch viele Freiheiten mit sich.» Wermelinger hätte gerne eine richtige Ausbildung zum Lüftungsfachmann oder Sanitär gemacht: «Aber die kann ich mir nicht leisten, wenn ich den Lebensunterhalt für mich und meine Frau verdienen muss.» Heute sei er wohl zu alt, als dass noch jemand in ihn investieren würde. «Hätte ich früher die Gelegenheit bekommen, mich weiterzubilden, mein Werdegang wäre anders verlaufen.»

Nicht relevant

Im gleichen Laufrad ohne Perspektive wie Kilic und Wermelinger strampeln in der Schweiz gegen 200 000 temporär Arbeitende. Die Einsatzfirmen, Vermittler, Gewerkschaften und auch die PolitikerInnen kennen die Probleme. Zuständig fühlt sich aber niemand richtig.

«Wir betreiben ein reines Nutzergeschäft», beschreibt etwa ein Personaldienstleister die Realität in der Verleiherbranche. Dabei kennt man das Problem haargenau: Schlecht qualifizierte Arbeiter müssten weitergebildet werden, um Angebot und Nachfrage im Arbeitsmarkt ins Gleichgewicht zu bringen, schreibt Manpower, der weltweit zweitgrösste Personalvermittler in einem Strategiepapier. «Infolge technischer Fortschritte und Produktivitätssteigerungen fallen viele weniger qualifizierte Routinetätigkeiten weg. Einst stark nachgefragte Fähigkeiten werden überflüssig. Die Nachfrage nach anderen Tätigkeiten hingegen steigt und kann bei Arbeitnehmenden zu Arbeitslosigkeit führen, wenn sie den neuen Anforderungen nicht entsprechen», hält der amerikanische Stellenvermittler fest. Trotz dieser Erkenntnis fühlt man sich bei Manpower nicht zum Handeln veranlasst. «Wir eruieren spezifische Fähigkeiten von Personen und integrieren Arbeitssuchende in den Markt», sagt Charles Bélaz, der für die Schweiz verantwortliche Generaldirektor. Die formale Weiterbildung sei Sache der Arbeitgeber. Ins gleiche Horn bläst auch der Branchenverband Swiss-Staffing. «Die Verantwortungsbereiche sind geteilt», sagt Verbandspräsident Georg Staub. «Wir ermuntern die Mitarbeiter, sich weiterzubilden, aber die Kompetenz der Personaldienstleiter liegt in der Betreuung der Vermittelten und nicht in deren Schulung.»

Weiterbildungsfonds

Doch auch die Einsatzbetriebe nutzen den Temporärmarkt, um eigene Ausbildungsanstrengungen zu umgehen. «Statt betriebsinterne Requalifizierungen vorzunehmen oder selbst teure Weiterbildungen anzubieten, stellen Betriebe Temporärarbeiter mit bestehenden spezifischen Qualifikationen ein», sagt der Arbeitsmarktspezialist Fred Henneberger von der Hochschule St. Gallen. «Obwohl temporäre Arbeit volkswirtschaftlich bedeutend ist, hat der einzelne Unternehmer keinen Anreiz, in die Schulung eines Leiharbeiters zu investieren. Höchstens für die Verleiher selbst könnte es lukrativ sein, die Mitarbeitenden weiterzubilden, weil sie dann höhere Vermittlungsgebühren kassieren und dem Kundenbedürfnis besser entsprechen.»

Im OECD-Raum belegen zahlreiche Untersuchungen, dass temporär Arbeitende deutlich weniger oft weitergebildet werden als Festangestellte. Eine wissenschaftliche Diskussion gibt es jedoch hierzulande nicht, denn Temporäre interessieren auch die Universitäten kaum: Stefan Wolter, Professor an der Universität Bern und Direktor der Schweizerischen Koordinationsstelle für Bildungsforschung, besitzt «keine wissenschaftliche Basis», um sich zum Thema zu äussern. Yves Flückiger, Professor an der Universität Genf, sagt entschuldigend: «Dieser Bevölkerungsgruppe wird in der Schweiz kaum wissenschaftliche Aufmerksamkeit geschenkt.» Auch das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) erhebt kaum Daten über temporär Arbeitende. «Anfang dieses Jahrtausends planten wir eine Verfeinerung unserer Statistikerhebung. In der Vernehmlassung für die Revision der Arbeitsvermittlungsverordnung wurde das Vorhaben breit abgelehnt, weil viele der Vernehmlasser - also die Verleiher, Kantone und so weiter - Mehrarbeit befürchteten», sagt Ueli Greub, beim Seco Leiter des Ressorts Grundlagen und Analysen.

Immerhin ist seit Anfang April 2006 eine neue Verordnung zum Arbeitsvermittlungsgesetz (AVG) in Kraft, die dem chronischen Weiterbildungsdefizit vieler ZeitarbeiterInnen beikommen sollte: Die Gesetzesverordnung zwingt die Personalvermittler erstmals zur Errichtung eines Weiterbildungsfonds. Die Beiträge belaufen sich auf maximal 0,5 Prozent der Lohnsumme oder 25 bis 50 Franken, inklusive eines Beitrages an den freiwilligen Altersrücktritt im Baugewerbe. Georg Staub von Swiss-Staffing rechnet mit jährlichen Ausgaben von fünfzig Millionen Franken. Die Weiterbildungsfonds - zurzeit gibt es davon über fünfzig landesweit - werden paritätisch von den Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden verwaltet. Weder die temporär Arbeitenden noch die Vermittlerfirmen haben ein Mitspracherecht.

Die Verordnung ging im vergangenen Herbst als «flankierende Massnahme» zur Erweiterung der bilateralen Verträge zwischen der Schweiz und den neuen EU-Staaten oppositionslos durch die Räte. Um zu verhindern, dass billige und gut ausgebildete Arbeitskräfte aus dem Osten auf Vermittlung von Temporärfirmen in die Schweiz kommen und das allgemeine Lohnniveau drücken könnten, hatten die Gewerkschaften «gleich lange Spiesse für alle» gefordert. Die Temporärbranche sieht das anders: «Die hatten von Anfang an nur den Bestandesschutz der eigenen Klientel im Auge», sagt Staub von Swiss-Staffing. «Die Zeitarbeit sollte verteuert werden», sagt Michael Agoras, CEO Adecco Schweiz, «Weiterbildung war gar nie das Ziel der Verordnung.»

Und die Gewerkschaften?

Seit dem Inkrafttreten der neuen Verordnung zum AVG vor vier Monaten wurden allerdings erst in Einzelfällen konkrete Lösungen für die Weiterbildung von TemporärarbeiterInnen gefunden. Die Beziehungen zwischen dem Branchenverband und den Gewerkschaften ist schwierig: Die Gewerkschaften anerkennen Swiss-Staffing nicht als Sozialpartner. «Wir haben kaum Kontakt zu dieser Branche», sagt Hansueli Scheidegger, Sektorleiter Bau bei der Unia, und macht den Standpunkt der Gewerkschaft klar: «Swiss-Staffing ist keine Vertragspartei und hat folglich auch kein Mitspracherecht bei der Verwendung der Gelder.» Der Verband hingegen fordert eine Vertretung in den Weiterbildungsfonds. «Und eigentlich sollten sich die Gewerkschaften um unsere Leute kümmern», sagt Verbandspräsident Staub. «Aber die Gewerkschaften unterscheiden zwei Klassen: die Festangestellten, für die sie Bestandesschutz betreiben, und die Temporären, um die sie sich nicht zu kümmern brauchen.» Dass man jene Hälfte der etwa 178000 TemporärarbeiterInnen, welche sich mit schwachen Qualifikationen am Markt behaupten müssen, einfach links liegen lasse, diesen Vorwurf weist der Gewerkschaftsvertreter zurück. «Wir vertreten deren Interessen über die allgemeinverbindlichen Gesamtarbeitsverträge», sagt er. Tatsächlich unterstehen aber nur etwa ein Drittel der ZeitarbeiterInnen einem solchen Vertrag, und nur sie haben dank der neuen Verordnung zum Arbeitsvermittlungsgesetz überhaupt eine Chance, von einem Weiterbildungsfonds zu profitieren. Die Mehrheit der TemporärarbeiterInnen bleibt davon ausgeschlossen.

Während in der Schweiz die Lage der temporär Arbeitenden offensichtlich bisher eher am Rande wahrgenommen wird, nehmen andere Länder das Thema ernster: In Italien beispielsweise müssen die Zeitarbeitsunternehmen vier Prozent des Umsatzes für Weiterbildung bereitstellen, in Frankreich sind es zwei Prozent. Mit dem Geld betreibt der französische Verband der Personaldienstleister sechzehn eigene Ausbildungsstätten. In der Schweiz, wo die Branche seit dem Markteinbruch 2001 wieder kräftig wächst und 3,5 Milliarden Franken im Jahr umsetzt, liessen sich auf diese Weise ansehnliche Projekte finanzieren.

Tausende Betroffene

Die Schweizer Temporärbranche verlieh im vergangenen Jahr 178000 Personen. Siebzig Prozent der temporär Arbeitenden sind unter 35 Jahre alt. Die Mehrzahl sind Männer, die Hälfte AusländerInnen. Ein Drittel der etwa von Manpower verliehenen TemporärarbeiterInnen ist nach eigenen Schätzungen ohne Berufsabschluss.

Die TemporärarbeiterInnen werden hauptsächlich zur Behebung von Engpässen gebraucht. Handlanger und SpezialistInnen werden im Temporärgeschäft etwa gleich häufig eingesetzt, ermittelte eine Studie des Branchenverbandes Swiss-Staffing. Allerdings übersteigt die Nachfrage nach temporären Fachkräften chronisch das verfügbare Angebot.

Speziell im Zeitarbeitsgeschäft wird sowohl das Risiko der Unterbeschäftigung als auch die Verantwortung, sich weiterzubilden und «marktgängig» zu halten, auf die Arbeitenden ausgelagert. MittlerInnen und NutzerInnen setzen die Kompetenzen der TemporärarbeiterInnen bereits voraus. Allein ihre Arbeitskraft ist gefragt.