Knapp daneben: Antiautoritäre Pfeife

Nr. 45 –

Der Philosoph und Publizist Klaus Theweleit hat vor zwei Jahren ein schönes Fussballbuch geschrieben, das «Tor zur Welt». Über seine Kindheitserinnerungen findet er darin zur Kritik des modernen Fussballs, und die zu lesen ist äusserst anregend. Bis auf einen Abschnitt. Der regt zwar auch an, aber zum Kopfschütteln.

Theweleit stört sich sehr am Menschenschlag des Fussballschiedsrichters, hält dessen autoritäres Gehabe und Ironiefreiheit für völlig verfehlt und überholt. In einem Interview mit dem (empfehlenswerten) deutschen Fussballmagazin «RUND» bekräftigt er nun seine Haltung. Damit steuert er seinen Teil bei zur auch hierzulande entfachten Diskussion über die zunehmende verbale und körperliche Gewalt auf Fussballplätzen.

Wer gelegentlich an einem Wochenende ein paar Stunden auf einem Fussballplatz verbringt oder am Rand eines solchen, weiss, dass die Berichte über ausrastende Spieler, aufhetzende Betreuer und verängstigte Unparteiische mehr sind als mediale Hysterie. Nicht, dass es immer passiert. Aber wenn es passiert, schnürt es einem ein bisschen die Kehle zu. Eine halbe Mannschaft Halbwüchsiger, die hinter dem Schiedsrichter herrennt, der Richtung Garderobe flüchtet. Was hat er falsch gemacht, der arme Mann? War er einfach zu streng, zu wenig nett?

Klaus Theweleit findet: «Warum soll der eine Spieler den anderen nicht ‹Arschloch› nennen oder ‹Bratwurst›? Das entspannt doch.» Ein «Pfeifenheini» in Richtung des Schiedsrichters untergrabe dessen Macht doch nicht. Bratwurst, Pfeifenheini – in welcher Welt lebt der Philosoph? Oder in welcher Stadt? Gerne würde ich Fussballspiele austragen an einem Ort, an dem «Bratwurst» zur gezielten Beleidigung eingesetzt wird. Ich würde mir sogar die Blut- und noch lieber die Leberwurst (kalt oder warm) gern gefallen lassen. Ich fürchte aber, heute wird nicht mehr gewurstet. Heute wird gefickt. Deine Mutter, deine Schwester. Oder mit dem Tod gedroht. Ich bring dich um, Mann.

Schiedsrichter, die Karten verteilen für Beleidigungen, offenbaren laut Theweleit ein «Denken, das aus Erziehungsanstalten kommt, aus Militärischem, aus Befehl und Gehorsam.» Also keine Karten verteilen, nie. Nett bleiben, locker bleiben, antiautoritär pfeifen. «Das war, mein Junge, eine kleine Grätsche von hinten. Ich persönlich finde das nicht gut, und wenn du genauso denkst, entschuldige dich doch bei deinem Gegenspieler.»

Vor Jahren führte ich ein Interview mit zwei Spielern des FC Luzern, Ivan Knez und Ludwig Kögl. Knez spielte später für Basel und Rapid Wied und steht nun bei Augsburg unter Vertrag. Der Bayer Kögl, 1987 Torschütze im Meistercupfinal gegen Porto (1:2, danke Madjer), hat seine Karriere beendet. Im Gespräch ging es unter anderem um ein Tor, das Knez’ und Kögls Teamkollege Agent Sawu gegen den FC Zürich erzielt hatte. Sawu hatte dabei dem Zürcher Keeper Shorumnu den Ball aus den Händen geschlagen und ins Tor befördert. Keiner der drei Unparteiischen hatte die Szene gesehen, es wurde trotz heftiger Proteste der Zürcher auf Tor entschieden. Ich wollte von den beiden Spielern wissen, ob niemand im Team der Luzerner daran gedacht hätte, die Unsportlichkeit zuzugeben. Knez und Kögl lächelten mitleidig. Ein abwegiger Gedanke.

Jahre später sass ich mit einem Kollegen beim Gespräch mit einem Spieler des FCZ. Der Klub hatte sich teuer verstärkt, spielte aber schlecht. Als einer der Hauptschuldigen wurde Augustine Simo ausgemacht. Wer den Kameruner rund um die Trainings beobachtete, merkte damals zweierlei: Simo ging es schlecht, und Simo war immer allein. Darauf angesprochen, meinte Simos Mitspieler, es könne schon sein, dass es dem schlecht gehe. Aber ihm selber gehe es manchmal auch nicht so gut, und da suche er eben Halt bei seinen Freunden und Verwandten. Gut, antworteten wir, aber Simo hat ja vielleicht nicht so viele Freunde und Verwandte hier. Da wäre doch Hilfe aus dem Team gefragt. «Ja», kam es zurück, «aber im Fussball muss halt jeder auch für sich selber schauen.»

In seinem ganzen Ärger über den Menschenschlag Schiedsrichter vergisst Klaus Theweleit offensichtlich, mit welchem Menschenschlag es der Schiedsrichter zu tun hat. Wenn Minderjährige im Rudel pöbeln, beleidigen oder gewalttätig werden, wenn Profis bereit sind, dem eigenen Profit nahezu alles unterzuordnen, hat das vielerlei Ursachen. Mangelnde Lockerheit des Schiedsrichters gehört, wenn überhaupt, nur peripher dazu.