Hamas: Erfolgreicher als Lenin

Nr. 47 –

Eine widersprüchliche Partei in einem widersprüchlichen Konflikt - nach der republikanischen Wahlniederlage in den USA hoffe die Hamas auf Gesprächsbereitschaft, sagt die Politologin Helga Baumgarten.

WOZ: Die Hamas steht militärisch und politisch unter starkem Druck aus dem In- und Ausland. Hält sie das durch? Gibt es die Hamas in zwei Jahren noch?

Helga Baumgarten: Die Hamas wird noch jahrzehntelang eine zentrale Rolle in Palästina und im Nahen Osten spielen. Die Hamas ist heute ähnlich populär wie im Januar, als sie die Wahlen gewann.

Die Hamas war aber bisher faktisch unfähig zu regieren.

Die Bevölkerung hat der Hamas ein Mandat gegeben, wirtschaftspolitische Reformen vorzunehmen wie die Korruptionsbekämpfung und die Schaffung eines schlankeren Regierungssektors. Weiter hat sie den Auftrag erhalten, eine konsequent nationalistische Politik zu führen und sich nicht bei den US-Amerikanern anzubiedern. Die Hamas hat auch klare politische Forderungen wie den israelischen Rückzug aus den besetzten Gebieten. Die Bevölkerung will der Hamas weiterhin die Chance geben, etwas von diesem Regierungsprogramm durchzusetzen.

Nach den Angriffen in Beit Hanun vorletzte Woche, als die israelische Armee fast eine ganze Grossfamilie auslöschte, hat die Hamas den Waffenstillstand aufgekündigt. Ist das nur Rhetorik?

Ich würde es als Rhetorik interpretieren. Nach diesem Vorfall war die gesamte palästinensische Bevölkerung in Aufruhr. Die Strasse forderte Rache. Die verschiedenen Hamas-Führer haben diese Forderungen von der Strasse aufgenommen. Interessanterweise haben sich parallel dazu die Verhandlungen über eine Einheitsregierung zwischen Hamas und Fatah verstärkt. Bei den Plänen für eine neue Regierung liegt das Problem aber bei der Fatah. Sie wartet auf Anweisungen aus den USA. Mit der republikanischen Wahlniederlage in den USA ist zudem die gesamte US-Politik im Nahen Osten auf den Kopf gestellt worden.

Ist die palästinensische Seite realpolitisch clever genug, diese Chance wahrzunehmen?

Die Hamas hat immer wieder Gesprächsbereitschaft gezeigt, und sie ist immer vorsichtig gewesen bei der Polemik gegen die USA. Sie war frustriert, dass die USA nicht auf Gesprächsangebote eingegangen sind. Jetzt sieht man wieder eine Chance. Der bisherige Premierminister Ismail Hanije bietet sogar an, zurückzutreten, damit wieder internationale Hilfsgelder fliessen.

Mohammed Schbeir, der frühere Rektor der islamischen Universität Gasa, könnte Ismail Hanije ablösen. Er wird der erste Ministerpräsident sein, den Sie persönlich kennen. Wie vertraut sind Sie mit der Hamas?

Als europäische Linke ist man nicht prädestiniert, mit fundamentalistischen Organisationen Kontakt aufzunehmen. Ein Freund von der International Crisis Group ICG bat mich, einen Bericht über die Hamas zu schreiben. Ich habe dreimal leer geschluckt und den Bericht geschrieben.

Wer hat Sie bei der Kontaktaufnahme zur Hamas unterstützt?

Dank eines ehemaligen Studenten, der bei einem arabischen Satellitenfernsehsender als Korrespondent arbeitet, konnte ich im Sommer 2003 die gesamte Hamas-Führung in Gasa-Stadt interviewen. Der erste leibhaftige Geheimdienstmann, den ich via ICG kennenlernte, hat mich zudem mit den Hamas-Vertretern im Ausland bekannt gemacht. Er wurde später abgezogen - in einer Phase, als die Hamas Gesprächsbereitschaft zeigte.

Ist die Hamas eine Kaderpartei oder eine demokratische Bewegung?

Ich spazierte heute in Zürich am Haus vorbei, wo Lenin während seiner Zürcher Zeit gewohnt hatte. Viele sagen, dass die Hamas Organisationsprinzipien von leninistischen Parteien übernommen habe - aber dabei erfolgreicher sei: Die politische Basis und die Elite arbeiten viel enger zusammen als in leninistisch-kommunistischen Kaderparteien. Bis tief in die unteren Ränge lässt die Hamas-Führung immer wieder verschiedene Politszenarien diskutieren. Bei den Wahlen 2004 hat sie mit einer Konsultation der Basis auch die Kandidaten gesucht. Manchmal setzt sich das demokratische Prinzip gegen die Führung durch, manchmal ist es aber auch umgekehrt. Es gibt wohl keine andere arabische Partei, in der Entscheidungen so gefällt werden. Darum haben wir manchmal zuerst widersprüchliche Stellungnahmen. Erst nach einem Entscheid der Basis wird ein klarer Kurs gefahren.

Die Hamas vertritt einen politischen und konservativen Islam.

Die Hamas vertritt nicht eindeutig einen konservativ-islamistischen Kurs. Kleidungsregeln hält man hoch. Der Frau gibt man hingegen eine immer stärkere Rolle in der Gesellschaft. Das ist in sich widersprüchlich.

Die Gesellschaft ist aber deutlich konservativer geworden.

Die Situation hat sich in Palästina und der gesamten arabischen Welt stark verändert. Es ist eine konservative Entwicklung. Der Islam wird identitätsstiftend. Ich kenne Mädchen, die setzen ein Kopftuch auf, um ihre Identität gegen eine westliche Identität durchzusetzen. Das hat mit der Hamas gar nichts zu tun.

Die Hamas steht aber für diese Regeln?

Die Hamas-Regierung sagt immer wieder dezidiert, dass sie nicht für die gewaltsame Durchsetzung dieser Vorschriften steht. Sie hat sich auch bemüht, so tolerant wie möglich zu sein. Man kann in Ramallah Alkohol trinken. An der Bir-Seit-Universität können Frauen alles anziehen: vom Minirock und engen Jeans bis hin zu Sackgewändern. In Gasa hingegen, an der islamischen Universität, gibt es zwei Universitätsgelände - eines für Studentinnen und ein anderes für Studenten. Ein Kollege, ein Politologe, hat dort unter Druck auf seine Stelle verzichtet, weil er nicht ans Freitagsgebet wollte.

Wird die Hamas Israel anerkennen?

Die Hamas-Führung wird Israel mit absoluter Sicherheit anerkennen. Die Basis auf der Strasse wird dies aber ablehnen. Die Hamas spricht im Moment von einem Waffenstillstand. Die nächste oder übernächste Generation soll dann die immerwährende Lösung finden können. Ismail Hanije hat sich in einem Interview provozieren lassen und gesagt, wenn Israel einen palästinensischen Staat anerkenne, dann anerkenne dieser Israel an. Die Führung macht Angebote, die für die Basis sehr weit gehen. Das wird im Westen immer wieder übersehen.

Stimmt das Gerücht, dass Israel bei der Gründung der Hamas beteiligt war?

Israel hat wohlwollend die Gründung der Muslimbrüder in den palästinensischen Gebieten begleitet, die sich gegen den Nationalismus wandten. Scheich Ahmed Jassin, der Gründer der Muslimbrüder in Palästina, war auch Gründer der Hamas. Sie ist aber ganz unabhängig von Israel gegründet worden. Zu Beginn ging Israel davon aus, dass es mit der Hamas eher zu einer Einigung kommen würde als mit Jassir Arafat und seiner PLO.

Gibt es Verbindungen zwischen al-Kaida und der Hamas?

Al-Kaida würde nichts lieber tun, als die Hamas zu schlucken. Die Hamas hingegen sagt kategorisch Nein dazu. Die Hamas ist eine religiös-nationalistische Organisation, die sich ausschliesslich auf Palästina bezieht; sie ist mehr nationalistisch als religiös. Al-Kaida hingegen kämpft aus dem Orient gegen den Westen auf einer fundamentalistisch-islamistischen Basis.

Wie steht die Hamas zu den Selbstmordattentaten?

Die Hamas war 1994 die erste palästinensische Organisation, die Selbstmordattentate in Israel einsetzte. Der Kontext war dieses regelrechte Massaker eines israelischen Siedlers in der Moschee in Hebron. Danach machte die Hamas das Angebot an Israel, Zivilisten aus dem Konflikt auszuklammern. Dieses Angebot hat die israelische Führung abgelehnt. Nach der Freilassung von Scheich Jassin 1997 aus israelischer Gefangenschaft hat die Hamas die Selbstmordattentate ausgesetzt. Zwischen 2001 und 2003 gab es eine neue Welle, als die Hamas die schlimmsten Selbstmordattentate verübte. Ab 2003 hat sie die Attentate mit zwei Ausnahmen wieder gestoppt. Die Organisation selber hat eine kontroverse Haltung zu den Selbstmordattentaten. Die offizielle Position ist: Wir wollen keine Zivilisten angreifen. Die Attentate würden sich nur gegen Armeeziele richten. Andere argumentieren, solange Israel palästinensische Zivilisten angreife, habe man keine Alternative, als auch israelische Zivilisten anzugreifen. Im Endeffekt hat die Hamas diese Terrorattentate einseitig gestoppt. Nach Beit Hanun gibt es wieder Diskussionen, Selbstmordattentate aufzunehmen. Wir können nur hoffen, dass sich diese Haltung nicht durch setzt. Bei der politischen Führung ist man eher dagegen. Die Hamas-Basis ist eher dafür.


Fabrikgespräch

Auf Einladung der Roten Fabrik in Zürich und der WOZ hat Helga Baumgarten letzte Woche ihr Buch «Hamas. Der politische Islam in Palästina» (siehe Vorabdruck WOZ Nr. 35/06) vorgestellt. Das Buch entstand aus einer Studie, die Baumgarten für die International Crisis Group ICG verfasste. Die ICG ist eine nicht staatliche Organisation in Brüssel, die verschiedene Regierungen bei der Konfliktanalyse und -lösung berät. Baumgarten lebt in Ostjerusalem und lehrt Politologie an der palästinensischen Universität Bir Seit. Sie schreibt regelmässig für die WOZ.