Rumänien: Was die Sterne bewirken

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Das ehemalige Ostblockland macht sich nach Europa auf. Was das bedeutet, ist dieser Tage in Bukarest zu beobachten: Das grosse Reinemachen hat begonnen.

Rumänien ist der Europäischen Union beigetreten. Der Schuhmacher Nelu deutet mit dem Kinn auf die EU-Flagge, die er mit Reissnägeln an der Wand in seiner Reparaturwerkstätte am Bukarester Boulevard Elisabeta befestigt hat. Er lächelt so, als läse er seine Zukunft in diesen goldenen Sternen auf blauem Grund.

Kaum jemand in Bukarest, der die Freude über den EU-Beitritt nicht teilte. Die Mitgliedschaft markiert das Ende der jahrzehntelangen Trennung von den westeuropäischen Staaten, denen sich die RumänInnen traditionell eng verbunden fühlen.

Einen immensen wirtschaftlichen Aufschwung allein aufgrund des Beitritts zur EU verspricht sich in Bukarest zwar niemand so recht, wohl aber einen gehörigen Modernisierungsschub. Der neuen Währung Leu (dt. Löwe), mit der sich die Rumänen vor anderthalb Jahren ausgestattet haben, ist erster Erfolg beschieden, sie ist stabil, die Inflationsrate sinkt laufend. Nichtsdestotrotz beträgt der durchschnittliche Monatslohn abenteuerlich geringe 245 Euro. Lehrerinnen und Ärzte gehören zu den kleinen VerdienerInnen. Der Euro wird voraussichtlich 2010 eingeführt.

Die Schilder im Schaufenster hat Herr Nelu mit bunten Klebebuchstaben selbst angefertigt. Über zu wenig Kundschaft kann er sich nicht beklagen. Die Gehsteige sind schadhaft.

In den Strassen der Metropole aber halten sich die unzähligen Autos ausländischer und neuer heimischer Provenienz («Dacia») die Waage. Stadtpräsident Adrian Videanu bezeichnet einen Verkehrskollaps binnen zweier Jahre für unvermeidlich, auch wenn die Erschliessung durch den öffentlichen Bus-, Tram- und U-Bahn-Verkehr schon jetzt gewährleistet ist. Eine Busfahrt kostet rund 40 Rappen. Die Busse werden mit Popmusik beschallt, oft mit dem Programm von Europa FM. Auf Flachbildschirmen werden seit neuestem auch Videos mit Benimmregeln gezeigt, darin, wer wann für wen aufzustehen hat.

Die Amtshäuser und repräsentativen Bauten in den Avenuen und Boulevards, den Strassen und Gassen Bukarests sind oft dreifach beflaggt, die rumänische Trikolore flankiert von dem europäischen Sternenbanner und der Nato-Fahne. Renovierte Gründerzeitensembles gibt es im Zentrum an mancher Stelle zu sehen, dazwischen die grauen Wohnhäuser, die Ceausescu in den sechziger Jahren aus dem Boden stampfte. Hier und dort hoch umzäunte Villen im verbreiteten Brâncoveanu-Stil, mit gedrungenen Ziersäulen geschmückt.

Die städtische Weihnachtsbeleuchtung fällt heuer europäisch aus, breite, blaue Lichtbänder, weiss durchwirkt und mit goldenen Sternen versehen, hängen zwischen den Strassenlampen, kilometerlang.

Wie wird man Europäer?

Die Frau im Passbüro schaut auf das Foto, das ihr die ältere Frau gereicht hat. Sie schüttelt den Kopf, sagt, sie könne dieses Foto nicht gebrauchen, die Antragstellerin sei darauf nicht zu erkennen. Stimmt, erwidert diese, sie habe sich die Haare gefärbt und die Zähne machen lassen, ausserdem ein wenig abgenommen, doch das alte Foto möge sie trotzdem. Die Beamtin nimmt sie kurzerhand mit der Digitalkamera auf.

Der Wunsch, jemand anderes zu werden und dabei der oder die alte zu bleiben, ist im Bukarest dieser Jahre ausgeprägt. Oft ist zu hören, dass die Zeiten vor der Wende gar nicht so schlecht gewesen seien. Diese Einschätzung habe aber mehr mit der grassierenden Nostalgie zu tun als mit einer rationalen Analyse, ist ebenso oft zu hören.

Die neue Selbstfindung fällt in Rumänien denjenigen leichter, die bereits im totalitären System gut für sich gesorgt hatten: Viele Parteifunktionäre, Geheimdienstler und Militärs konnten ihre Pfründe in die Demokratie hinüberretten. Die Methode ist so einfach wie sicher. Man kaufe vom Staat für ein Butterbrot eine alte Industrieanlage, zerteile und verkaufe anschliessend den Grund zu sieben- bis zehnstelligen Euro-Beträgen. Oder aber man erledige alles gleich auf dem Papierweg und erwerbe ein profitables staatliches Energieunternehmen zum Schrottpreis. Natürlich greift man dazu auf die alten Netzwerke der Macht zurück, die heute nahtlos in der Privatwirtschaft aufgehen.

Privatisierungsgewinnlern sucht die im Jahr 2000 gegründete Directia Nationala Anticoruptie (DNA) zu Leibe zu rücken. Sie ist zwar Teil der Staatsanwaltschaft, budgetär und personell aber mit den eigenen 145 Staatsanwältinnen und Staatsanwälten von dieser getrennt und direkt dem Höchsten Gerichtshof angegliedert. Die DNA verfügt ausserdem über ein eigenes Polizeiaufgebot (170 Beamte), 55 eigene Expertinnen und Experten in Steuer- und Finanzfragen sowie 196 zusätzliche Verwaltungspositionen. Vertretungen der DNA finden sich in 17 weiteren Städten des Landes. «Wir können damit bei Haus- und Bürodurchsuchungen genauso gezielt vorgehen wie bei den eigentlichen juristischen Ermittlungen», sagt Livia Saplacan, Sprecherin der DNA.

Vor dem zentral gelegenen Gebäude in der Stirbei-Voda-Strasse legen sich die Abgesandten der Presse gern auf die Lauer. Sie verfolgen, welcher Politiker oder Industrielle zur Vernehmung geladen wird.

Saplacans Büro ist nur nach Voranmeldung und durch den Metalldetektor am Eingang des Gebäudes zu erreichen, wo die Beamten die Personalien der Presseleute auf- und ihnen das Handy abnehmen. «Auch die ausländische Presse beobachtet unsere Arbeit genau», sagt Saplacan. Die Resultate der DNA für das Jahr 2006 wirken zunächst äusserst bescheiden. Acht Parlamentarier konnten bislang angeklagt werden. Dass diese Zahl aber nur die Spitze des Eisbergs abbildet, lässt sich leicht daran erkennen, dass es sich bei einem der Angeklagten um den früheren Premierminister Adrian Nastase handelt.

«Während Nastase nach den Vernehmungen noch auf dem Gehsteig vor die Presse tritt und von Hexenjagd spricht, können wir uns medial nur über die Anklageschrift äussern. Mehr erlaubt das Gesetz nicht», sagt Saplacan. Die DNA geniesst zwar weitgehend das Vertrauen der Bevölkerung, wird aber tendenziell als harmlos betrachtet. Das mag daran liegen, dass die Arbeit an den Korruptionsfällen langwierig ist. Auch ist die «low level»- oder alltägliche Korruption derart weit verbreitet, dass jeder Versuch, den gesamten Korruptionssumpf trockenzulegen, als illusorisch betrachtet wird. Die EU hatte die effektive Bekämpfung der Korruption zur Bedingung für eine Mitgliedschaft gemacht, was die Rumänen brüskierte.

Adrian Nastase, der frühere Premierminister (2000-2004) und frühere Präsident der sogenannten Sozialdemokratischen Partei (PSD), die faktisch das Sammelbecken der alten Nomenklatur darstellt, muss sich für aktive und passive Bestechung in der unwirklich anmutenden, dennoch realistischen Höhe von über 1,37 Milliarden Euro sowie in einem Fall von Verwendung illegaler Parteispenden in der Höhe von 817 Millionen Euro vor dem Volk verantworten. Nächster Gerichtstermin ist der 23. Januar. «Die Akten sind neu. Wir werden sehen, ob die Beweise ausreichen, um Nastase zu verurteilen», sagt Saplacan. «Es wird dauern.»

Wann Rumänien mit ganzer Kraft wieder an die Moderne anknüpfen wird, kann niemand sagen. Die Geduld der westlichen Nettozahler scheint in Zeiten klammer Haushalte aber begrenzt. Der Göttinger Osteuropa-Historiker Manfred Hildermeier forderte vor kurzem auf einer Tagung in Deutschland, den Begriff der Rückständigkeit als Paradigma der vergleichenden europäischen Geschichte wiedereinzuführen. Er warnte vor Werterelativismus und erhielt vom prominenten Berliner Historiker Jürgen Kocka Unterstützung. Kocka sprach in diesem Zusammenhang von einer falsch verstandenen political correctness Osteuropa gegenüber.

Revolution der Revolution

Kaum jemand in Rumänien hält die Ereignisse von Ende Dezember 1989 und die Hinrichtung Ceausescus noch für den revolutionären Akt, als welcher er ausgerechnet von der früheren Entourage Ceausescus dargestellt und zugleich innerlich relativiert wird. Im Gegenteil hat sich die Sichtweise in der Bevölkerung durchgesetzt, dass sich diese Entourage, nach dem Tauwetter in der Sowjetunion und der Wende in Osteuropa, noch schnell mit einem vorgeblich von der Bevölkerung getragenen Putsch retten wollte.

Der Altkommunist Ion Iliescu war damals umgehend von der sogenannten Front zur Nationalen Rettung (FSN), die heute als PSD figuriert, vorläufig zum Staatspräsidenten ernannt worden. Am 20. Mai 1990 dann wurde Iliescu in den ersten sogenannten freien Wahlen mit 85 Prozent der Stimmen im Amt bestätigt. Als die Bevölkerung die Gültigkeit der Wahlen in tagelangen Protesten auf dem Bukarester Universitätsplatz anfocht, liess er Bergarbeiter aus der Provinz heranfahren, die wild drauflosschlugen. Mindestens fünftausend Demonstranten wurden dabei verletzt, mindestens sechs Menschen starben, die Dunkelziffer liegt wesentlich höher. Im Oktober 1992 wurde Iliescu mit 61 Prozent der Stimmen erneut zum Staatspräsidenten gewählt.

Bei den Parlamentswahlen 2004 unterstützte Iliescu aktiv seinen alten Politgefährten Adrian Nastase, obwohl das Gesetz eine Einmischung des Präsidenten in die Wahlen verbietet. Iliescu rechtfertigte sich damit, dass er schliesslich nicht der Bundespräsident der Schweiz sei, und missverstand damit zumindest den Neutralitätsbegriff. Er hatte das Amt elf Jahre lang inne (1989-1996 sowie 2000-2004). Heute sitzt er als PSD-Abgeordneter im rumänischen Senat. Gegen Iliescu wird seit 2005 unter anderem wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit ermittelt.

Seit fast genau zwei Jahren bekleidet der frühere Bukarester Stadtpräsident Traian Basescu das Amt des Staatspräsidenten. Als sich 1992 die Sozialdemokratische Partei in die PSD und die Demokraten (PD) aufspaltete, folgte Basescu den Letzteren.

Basescu scheint entschlossen, in Richtung einer offenen Gesellschaft zu gehen. Am 18. Dezember 2006 trug er den «Bericht über die Verbrechen des kommunistischen Regimes zwischen 1948 und 1989» im Parlament vor, mehrere Fernsehsender übertrugen zeitgleich. In scharfen Worten verurteilte er das einstige totalitäre Regime, nannte Ross und Reiter. Anwesend waren auch der ehemalige König von Rumänien Mihai von Hohenzollern, Vaclav Havel und Lech Walesa. Der Bericht wurde von einer Expertenkommission verfasst, die vom Historiker Vladimir Tismaneanu aus dem US-Bundesstaat Maryland geleitet wurde.

Selbstredend störten die Altkommunisten Basescus Vortrag massiv. Parlamentspräsident Nicolae Vacaroiu (PSD), Premierminister von 1992 bis 1996, liess zu, dass etwa der Ultra-Nationalist Vadim Tudor den Staatspräsidenten aus nächster Nähe ehrverletzend beschimpfen und mehrmals ein Transparent im Saal herumtragen durfte, auf dem Basescu als Sträfling abgebildet war.

Im Programm des Privatsenders Antena 1 ist regelmässig die satirische Sendung Animat Planet zu sehen, worin ein karikierter Basescu als Super-Base auftritt. Seine Haarsträhne, die er inzwischen abgeschnitten hat, dient ihm als Propellerblatt. Schnell fliegt er damit in der Not heran.

Das Parlament tagt im früheren Haus des Volkes, dem nach dem Pentagon zweitgrössten Gebäude der Welt. Am Eingang knattern heute die rumänische und die europäische Flagge im Wind.

Der junge Mann dort an der Haltestelle, sichtlich auf seine Wirkung bedacht, hat einen EU-Sticker auf die Jeans genäht. Sein Blick fliegt über die bunten Magazine am Kiosk: «PC-World», «Geo», «National Geographic», «Popcorn», «Hustler», «Playboy», «Bravo», «Chip», «Le Monde diplomatique», alles auf Rumänisch.

Die bekannte Journalistin Ioana Avadani sitzt in ihrem Büro im Zentrum Bukarests. Sie führt die Geschäfte des 1994 gegründeten Zentrums für unabhängigen Journalismus (CJI). «Wir bilden Journalisten aus, erstellen Medienlehrgänge für Schulen und Universitäten», sagt sie. «Leider sind die wenigsten Redaktionen so weit, um unsere Absolventen einzustellen. Deshalb beraten wir die Redaktionen vorerst nur.»

In Rumänien lesen rund fünfzehn Prozent der Bevölkerung täglich Zeitung. Besondere Aufmerksamkeit widmet Avadani der EU-Marktmissbrauchsrichtlinie und beobachtet deren Umsetzung. Die EU will mit der «market abuse directive» Insidergeschäfte im Finanzbereich verhindern. Eine Verlagerung in weitere journalistische Bereiche könne die alarmierende Folge zeitigen, dass etwa politische Informanten preisgegeben werden müssten, sagt Avadani.

Im nahen Cismigiu-Park, gegenüber Nelus Reparaturwerkstätte, finden sich gusseiserne verzierte Stühle, deren Holzflächen grün lackiert sind. Wo man Parkbänke vermutete, wurden einzelne Stühle aneinandergereiht, manchmal hundert Meter weit.

Eine junge Frau liest Zeitung. Neben ihr sitzen zwei Rentner in der Sonne, tauschen sich kontrovers über die EU aus.

Europa ist immer dort, wo man darüber streitet.