Haruki Murakami: Auf der Suche nach der verlorenen Pointe

Nr. 3 –

«Wissen Sie, wer ich bin?», fragt die Stimme am andern Ende der Leitung. Zu gerne wüsste der junge Mann, wer der Unbekannte ist, der ihm täglich mit seinen Anrufen aufwartet, seit exakt jenem Tag, an dem er sich zum ersten Mal erbrach. Erbrechen muss er sich von da an jeden Tag, ohne erkennbaren Grund. Erst als die anonymen Anrufe aufhören, nehmen auch die Brechanfälle ein Ende. Ein Zusammenhang ist nicht von der Hand zu weisen. Doch eine schlüssige Erklärung gibt es nicht, weder für den Protagonisten von Haruki Murakamis Erzählung «Erbrechen 1979» noch für die LeserInnen. Ist man zunächst geneigt, die rätselhaften Vorkommnisse analytisch zu ergründen und im lasterhaften Leben des jungen Draufgängers die Ursache allen Übels auszumachen, kommt man bald in Erklärungsnot: Während Anrufe und Erbrechen abrupt enden, geht unser Held unbeirrt weiter seinen amourösen Abenteuern nach.

Mit Logik und Ratio kommt man Haruki Murakamis Erzählungen nur schlecht bei, und dies ist durchaus gewollt. Einen Querschnitt seines erzählerischen Werks gibt nun die Sammlung «Blinde Weide, schlafende Frau». Sie umfasst 24 Geschichten, die zwischen 1983 und 2005 entstanden sind. Sie alle beginnen harmlos, handeln von ganz gewöhnlichen Zeitgenossen, die tagsüber arbeiten und abends ins Fitnessstudio gehen, von Grossstadtmenschen, die in festen Beziehungen leben und ihren Urlaub am Meer verbringen. Bis sie überrascht werden von sonderbaren Ereignissen, für die es keine Erklärung gibt. Zumindest keine rationale.

Die Tendenz zum Fantastisch-Märchenhaften nimmt in den neueren Erzählungen zu. Doch auch der sprechende «Affe von Shinagawa» aus der gleichnamigen Geschichte kennt die letzten Antworten nicht und deutet die Geschehnisse als «eine Laune des Schick-sals». Oder müsste man sie besser einer Laune des Autors zuschreiben? Wer bislang Gefallen an Murakamis verrätseltem Schreiben gefunden hat und dahinter womöglich einen tieferen Sinn zu entdecken weiss, dem seien diese Erzählungen empfohlen.

Haruki Murakami: Blinde Weide, schlafende Frau. Dumont. Köln 2006. 414 Seiten. 41 Franken