Klimaforschung: Die Konsensmaschine

Nr. 4 –

Anfang Februar erscheint ein Bericht, der den Wissensstand der Klimaforschung darlegen will. Wie lösen die ForscherInnen diesen Anspruch auf einem politisch umkämpften Feld ein?

Am kommenden 2. Februar wird die Weltöffentlichkeit an einer Pressekonferenz in Paris über den aktuellen Stand des Wissens über den Klimawandel informiert. Es lädt ein: die Arbeitsgruppe I des International Panel on Climate Change (IPCC). Das IPCC hat sich die Aufgabe gestellt, periodisch - nunmehr zum vierten Mal seit 1990 - einen Überblick über das Wissen einer gesamten wissenschaftlichen Disziplin zu erstellen.

Geht das überhaupt? Lässt sich ein Konsens einer gesamten Disziplin finden, noch dazu auf einem politisch so umstrittenen Feld wie der Klimaforschung? Ist die Konsenssuche der Disziplin nicht abträglich, da nur Dissens die Wissenschaft voranbringt?

Thomas Stocker, Professor für Klimaphysik an der Universität Bern, war als koordinierender Hauptautor an diesem wie auch schon am letzten, 2001 erschienenen Bericht (Assessment Report) des IPCC beteiligt. Stocker sagt: Ja, das geht.

Das IPCC wurde 1988 gegründet. Das war sieben Jahre vor der Kioto-Konferenz und vier Jahre vor dem ersten Uno-Umweltgipfel in Rio de Janeiro, zu einem Zeitpunkt, als der Klimawandel noch kein grosses Thema der internationalen Politik war und die heute erhärtete Tatsache, dass es einen vom Menschen verursachten Klimawandel gibt, in der Fachwelt noch heftig umstritten war. Der Anstoss zur Gründung kam wesentlich aus den USA: Dort stand, nach einer aussergewöhnlichen Trockenheit, das Klima[100] ein erstes Mal im Zentrum des medialen Interesses.

Das IPCC forscht nicht und gibt auch keine Forschung in Auftrag, sondern es fasst den Stand des publizierten Wissens zusammen (allerdings gehen von seiner Arbeit Impulse aus, die durchaus die Agenda der Forschung beeinflussen). Es gliedert sich in drei Arbeitsgruppen: Die erste, naturwissenschaftliche, befasst sich mit den physikalischen Grundlagen des Klimawandels und schätzt die globalen künftigen Veränderungen ab; die zweite, gemischt natur- und sozialwissenschaftliche, widmet sich den regionalen Auswirkungen des Klimawandels, und die dritte, wirtschafts- und politikwissenschaftlich dominierte, untersucht mögliche Massnahmen gegen den Klimawandel sowie zur Anpassung an diesen. Mitglieder des IPCC sind Staaten respektive deren Regierungen. 48 waren es im Jahr 1990, heute sind praktisch alle Staaten der Welt vertreten.

Der Anspruch der Politik an das IPCC ist simpel: Ihr, WissenschaftlerInnen, einigt euch und sagt uns, was Sache ist; wir, PolitikerInnen, werden dann handeln. Doch natürlich funktionieren Wissenschaft und Politik nicht so klar voneinander abgegrenzt. Der Einfluss der Politik ist im IPCC-Prozess stark institutionalisiert: Die Mitgliedsstaaten wählen das Büro mit Sitz in Genf, das die HauptautorInnen bestimmt, die wiederum aus Vorschlägen der Regierungen ausgewählt werden. Die einzelnen Kapitel des Berichts werden vor der Publikation nicht nur von wissenschaftlichen ExpertInnen, sondern auch von den Regierungen mehrmals begutachtet. Und die Zusammenfassungen für EntscheidungsträgerInnen («Summaries for Policymakers») schliesslich müssen Wort für Wort von der Plenarsitzung abgesegnet werden.

Die Mitgliedsstaaten bringen in diesen Gutachten und Plenarsitzungen ihre unterschiedlichen Interessen ein. Die Erdölförderstaaten betonen die Rolle der Treibhausgase, die nicht aus der Verbrennung stammen, und die Unsicherheiten der Klimamodelle; die Entwicklungs- und Schwellenländer legen Wert auf ihre im Vergleich zu den Industrienationen extrem geringen Emissionen der Vergangenheit … Handfest geäussert hat sich die Einflussnahme der Politik, als 2002 der IPCC-Vorsitzende Robert Watson, ein US-Amerikaner und ehemaliger Berater der Regierung von Bill Clinton, abgewählt und durch den vermeintlich zahmeren Inder Rajendra Pachauri ersetzt wurde. Laut BeobachterInnen standen hinter diesem Coup die Regierung George Bush und die Erdölkonzerne.

Ist in diesem Umfeld objektive, neutrale Wissenschaft möglich? Thomas Stocker sagt, politische Anfeindungen habe er eigentlich immer nur ausserhalb des IPCC erlebt. Für ihn sei es nicht so wichtig, ob der IPCC-Vorsitzende Pachauri oder Watson heisse. Die wichtige Frage laute: Sähe der vierte Bericht anders aus, wenn Watson noch immer den Vorsitz hätte? Kaum, meint Stocker. Auch den Einfluss der Staaten im - sehr transparenten - Begutachtungsprozess hat er nicht als Einschränkung erlebt: Die Staaten müssten ihre Anliegen ja mit wissenschaftlichen Argumenten vortragen, wissenschaftlich unbegründete Beiträge hätten keine Chance. Stocker sieht die Beteiligung der Regierungen sogar positiv: Wenn diese an der Entstehung des Berichts beteiligt seien, so würden sie sich auch stärker damit identifizieren.

«Über 2500 wissenschaftliche Experten - über 800 Autoren - und über 450 Hauptautoren - von über 130 Staaten - 6 Jahre Arbeit - 4 Bände - 1 Bericht», wirbt die IPCC-Homepage für den nun erscheinenden vierten Assessment Report. Die Zusammenarbeit dieser grossen Zahl von ForscherInnen funktioniert in einer ausgeprägten Hierarchie. Die Teilberichte der Arbeitsgruppen sind in Kapitel gegliedert, deren HauptautorInnen, eingesetzt vom IPCC-Büro, sich selbst organisieren. Geleitet wird die Redaktion der einzelnen Kapitel von je einem oder zwei koordinierenden HauptautorInnen; weitere AutorInnen (contributing authors) werden von den HauptautorInnen eingesetzt. In der Zahl 2500 sind schliesslich auch die ExpertInnen mitgerechnet, die die Entwürfe begutachten.

Immer wieder wird dem IPCC vorgeworfen, es klammere dissidente Meinungen aus. Stocker widerspricht mit dem Beispiel von Richard Lindzen vom Massachusetts Institute of Technology, einem der Hauptautoren des dritten Reports, der am selben Kapitel wie Stocker arbeitete. Lindzen bezweifelte die Tauglichkeit der verwendeten Modelle. Er gilt den «KlimaskeptikerInnen», die eine menschgemachte Klimaerwärmung abstreiten, als ein Hauptzeuge. Die Auseinandersetzungen mit Lindzen, erinnert sich Stocker, hätten viele Nerven gekostet - aber sie führten zu einem guten Ende: Lindzen hat den Bericht mitunterzeichnet. Sandrine Bony, eine der MitautorInnen, kommt in einem Aufsatz zum Schluss, die Auseinandersetzung um Lindzen sei zwar in ihrer Intensität weit über das hinausgegangen, was in wissenschaftlichen Debatten üblich sei. Letztlich habe sie aber dazu beigetragen, dass die Qualität der Expertise in der strittigen Frage heute besser sei.

Dass Prognosen immer ein Stück weit spekulativ sind, liegt in deren Natur. Die Unsicherheiten sind zweierlei Art: Erstens sind die naturwissenschaftlichen Kenntnisse des Klimas begrenzt sowie die Möglichkeiten, diese Kenntnisse in mathematische Modelle zu giessen, die sich mit den bestehenden Computerkapazitäten berechnen lassen. Zweitens sind die Vorannahmen unsicher: Wie wird sich der Ausstoss von Treibhausgasen in Zukunft entwickeln? Die Arbeitsgruppe I rechnet mit verschiedenen Szenarien, die ihr die Arbeitsgruppe III liefert - wobei Letztere, um diese Szenarien entwerfen zu können, Informationen aus der Arbeitsgruppe II verwenden muss, die ihrerseits die Auswirkungen des Klimawandels untersucht, wie er von Arbeitsgruppe I beschrieben wird. Eine gewisse Zirkularität lässt sich nicht ausschliessen.

Die Arbeitsgruppe I publiziert ihren Teilbericht als Erste. In diesem Teilbericht steht die Zahl, die in der öffentlichen Wahrnehmung so etwas wie die Essenz des ganzen IPCC-Prozesses ist: um wie viel Grad die Durchschnittstemperatur zunehmen wird (laut dem dritten Bericht von 2001 waren es 1,4 bis 5,8 Grad bis ins Jahr 2100). Allerdings hat das Gewicht der anderen Arbeitsgruppen, namentlich der Ökonomen, innerhalb des IPCC zugenommen. Seit der Klimakonferenz in Delhi 2002 hat das Thema der Anpassung an den Klimawandel an Gewicht gewonnen; die Klimakonferenz von Buenos Aires 2004 ging als «Konferenz der Anpassung» in die Annalen ein. Auch hier wird der Einfluss der USA sichtbar. 2002 begann die Regierung Bush - nachdem sie sich vom Kioto-Protokoll verabschiedet hatte -, die «Reduktion der Verletzlichkeit der Länder des Südens gegenüber der Klimavariabilität» auf die Agenda zu heben. Mit anderen Worten: Statt etwas gegen den Klimawandel zu unternehmen, sollte die Welt sich daran anpassen. Die Länder des Südens erhofften sich von einer solchen Agenda zusätzliche Gelder und unterstützten die USA; mittlerweile ist klar, dass der Klimawandel so weit fortgeschritten ist, dass Anpassungen sowieso unumgänglich sind.

Der neue Fokus hat aus entwicklungspolitischer Perspektive durchaus sein Gutes: Bis dahin, sagten VertreterInnen des Südens in Interviews, die die Pariser Wissenschaftsforscherin Amy Dahan 2004 führte, sei die Sicht der IPCC-Berichte zu sehr auf die Physik konzentriert gewesen. Das habe dazu geführt, dass Treibhausgase wie das Methan, das (überlebensnotwendige) Reisfelder in Südasien freisetzen, mit dem CO2 aus den Automotoren des Nordens (die Ausdruck eines Lebensstils des Überflusses sind) in einen Topf geworfen wurden. Eine der von Dahan interviewten Personen sagte: «Der erste IPCC-Bericht sprach von Molekülen, der zweite von Molekülen und Dollars, im dritten Bericht hat man endlich den Menschen eingeführt.»

Obwohl die HauptautorInnen des IPCC-Berichts in erster Linie nach ihren wissenschaftlichen Verdiensten ausgewählt werden, wird heute auch darauf geachtet, dass an jedem Kapitel auch ForscherInnen aus Entwicklungs- und Schwellenländern mitwirken. Beim Kapitel, an dem Thomas Stocker mitarbeitet, sind das je ein Wissenschaftler aus Ghana und China. In diesem Miniproporz steckt das Zugeständnis, dass auch der beste Wissenschaftler nicht völlig unabhängig von seinem Lebensumfeld Wissenschaft betreiben kann.