Rhetorik: Stunde der Heuchler

Nr. 6 –

Die führenden Leute aus der Politik verlangen mehr Erdöl, neue Gaspipelines, zusätzliche Kraftwerke, steigende Umsätze in der Autoindustrie - und selbstverständlich mehr Klimaschutz.

«Es ist Zeit für eine Revolution», sagte Frankreichs Präsident Jacques Chirac an der Umweltkonferenz in Paris. Und Bundesrat Hans-Rudolf Merz forderte in der «Südostschweiz»: «Der Verbrennungsmotor muss weg.» Wenn rechte Politiker plötzlich zur ökologischen Revolution aufrufen oder dem Automobil den Antrieb wegnehmen wollen, muss die Lage ernst sein.

Anlass zum verbalen Radikalismus liefert der neuste Klimabericht, dessen Zusammenfassung das Uno-Wissenschaftsgremium IPCC am 2. Februar veröffentlichte. Dieses Papier bestätigt im Wesentlichen, was zum Beispiel in der Industrie- und Handelszeitung «Technische Rundschau» am 19. Dezember 1978 zu lesen war: «Entwickelt sich der Verbrauch fossiler Brennstoffe im heutigen Ausmass weiter, dürfte der CO2-Gehalt bis zum Jahr 2050 um über 100 Prozent ansteigen. Bei einer Verdoppelung sagen die neusten Klimamodelle einen mittleren Temperaturanstieg der Erdoberfläche um 2 bis 3 Grad Celsius voraus.» 1988 forderte deshalb der Klimakongress in Toronto, der globale CO2-Ausstoss müsse bis zum Jahr 2005 um zwanzig Prozent gesenkt werden.

Die Revolution fand weder 1978 noch 1988 statt. Sie scheiterte an der Evolution, wie sie die Weltenergiestatistik im Rückspiegel zeigt: Von 1978 bis 2005 hat der globale Verbrauch der fossilen Energieträger Erdöl, Erdgas und Kohle - und damit der Ausstoss des Klimagases Kohlendioxid (CO2) - nicht ab-, sondern um fünfzig Prozent zugenommen.

Energie- schlägt Klimapolitik

Auch in den kommenden Jahren sind keine revolutionären Umwälzungen zu erwarten. Frankreich wird seine Kioto-Verpflichtung (Senkung der Klimagase bis 2010 um acht Prozent unter das Niveau von 1990) ebenso wenig erfüllen wie die meisten andern EU-Staaten. Bis zum Jahr 2030, so prophezeit die Internationale Energieagentur, werde die Nachfrage nach fossiler Energie weltweit um weitere 55 Prozent zunehmen; dies trotz zusätzlicher Atomkraftwerke.

Für diese Entwicklung gibt es einen einfachen Grund: Die gleichen Regierungen und Verbände, die den Klimaschutz beschwören, heizen mit ihrer Wirtschafts- und Energiepolitik das Klima auf. Das Wachstum der Wirtschaft hat stets Vorrang. Dabei belegen alle Erfahrungen: Mehr Produktion und mehr Konsum erhöhen die Nachfrage nach Energie und damit den Ausstoss des massgebenden Klimagases CO2.

Um die wachsende Energienachfrage zu decken, schwafeln Regierungen und Energiewirtschaft von CO2-freier Atomkraft oder erneuerbaren Energien - und drehen gleichzeitig den Öl- und Gashahn weiter auf. Oder gibt es Erdöl importierende Staaten, die die Ölproduzenten auffordern, im Interesse des Klimaschutzes ihre Förderquoten zu senken? Und welcher Energieminister ermuntert die Ölmultis, die Suche nach neuen Ölfeldern einzustellen? Das Gegenteil geschieht: Weil leicht erschliessbare Ölquellen allmählich versiegen, investieren Staaten und ihre Unternehmen Milliarden, um mit grossem Aufwand an Material und Energie auch noch die wenig ergiebigen Ölsande etwa in Kanada und Venezuela auszubeuten. Damit wandeln sie zusätzlichen Kohlenstoff in Kohlendioxid um und steigern die CO2-Konzentration in der Atmosphäre weiter.

Schutz für Autoindustrie

Nun will also unser freisinniger Finanzminister und Dichter Hans-Rudolf Merz, der privat einen geländegängigen Mercedes besitzt und sich gerne in der Staatslimousine chauffieren lässt, «weg vom Verbrennungsmotor». Denn er weiss genau, dass diese verbale Kraftmeierei keinen Rappen kostet. Als Freund der Umwelt outet sich neuerdings auch sein Partei- und Bundesratskollege Pascal Couchepin: Abgasnormen «wie in Kalifornien», so sagte er letzte Woche in Interviews, sollten auch in der Schweiz möglich sein. Ebenso strenge Vorschriften wünscht auch EU-Umweltkommissar Stavros Dimas. Konkret beantragt er, die CO2-Emissionen von neuen Autos, die ab 2012 in den EU-Staaten abgesetzt werden, auf durchschnittlich 120 Gramm pro Kilometer zu begrenzen. Das entspricht einem Verbrauch von 5,1 Liter Benzin oder 4,6 Liter Diesel pro hundert Kilometer.

Motoren mit weniger als fünf Liter Treibstoffverbrauch genügen vollauf, um ein mittelgrosses Auto mit 130 Stundenkilometern fortzubewegen (der maximal zulässigen Geschwindigkeit in den meisten Ländern). Doch die Autowirtschaft, speziell die deutsche, schöpft den Grossteil ihres Umsatzes aus massigen Karossen, die jenseits von Tempo 150 noch immer flott beschleunigen können und darum mehr Sprit verbrennen. Weil im Konfliktfall Umsatz und Profit Vorrang haben, lehnt die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel die beantragte Begrenzung strikt ab. Sie sei damit am «ersten Realitätstest gescheitert», schilt sie der «Tages-Anzeiger» - eine jener Zeitungen, die auf ihren Autoseiten mehrheitlich Modelle mit hohem Treibstoffverbrauch anpreisen.

Die Schweiz im Vergleich

Wie sieht nun die Realität in der Schweiz aus? Der Bundesrat besitzt seit Jahren die Kompetenz, Verbrauchsvorschriften für Fahrzeuge zu verordnen. Doch dieses Recht hat er aus Rücksicht gegenüber der Autolobby nie genutzt. Stattdessen beschränkte er sich auf eine freiwillige «Zielvereinbarung» mit den Autoimporteuren: Diese sollen den Durchschnittsverbrauch ihrer Neuwagenflotte bis 2008 auf 6,4 Liter Benzin oder Diesel pro hundert Kilometer senken. Von diesem Ziel sind sie aber weit entfernt: 2005 verbrauchten die in der Schweiz abgesetzten Neuwagen durchschnittlich 7,7 Liter auf hundert Kilometer; sie puffen damit fünfzig Prozent mehr CO2 in die Luft, als der EU-Umweltkommissar künftig erlauben will. Trotzdem bekämpften die klimaschützerischen Maulhelden Merz und Couchepin im Bundesrat die CO2-Abgabe auf Treibstoffen ebenso erfolgreich wie höhere Importsteuern für Benzinsäufer. Derweil will ihre Partei allein im Kanton Zürich dreissig Milliarden Franken in neue Autobahnen betonieren.

Jacques Chirac, Hans-Rudolf Merz und Pascal Couchepin gehören zur Mehrheit. Denn die meisten PolitikerInnen befürworten den Klimaschutz - solange die klimaschädigende Energie- und Automobilwirtschaft keine Einbussen erleidet. Die Heuchelei ist grenzenlos.