Knapp daneben: «Erwin» geht

Nr. 9 –

Anfang Jahr erreichte mich eine traurige Nachricht: Der «Erwin» ist nicht mehr. Von uns gegangen. Nach 65 Ausgaben. «Es fehlt uns an Teamgeist», erklären die HerausgeberInnen. Fast dreizehn Jahre unentgeltliche und unerbittliche Redaktionsarbeit haben ihre Spuren hinterlassen. «Wir beenden den ‹Erwin›, aber der rot-weisse Schal bleibt an!»

Der «Erwin», das war ein A5-Fanzine zu den Kickers Offenbach. Seinen Namen verdankt es dem bis heute schillerndsten Kicker, Torjäger Erwin Kostedde. Der erste farbige Nationalspieler Deutschlands soll seine Karriereplanung einst mit den Worten umschrieben haben: «Ich möchte nie mehr arbeiten, sondern nur noch am Tresen stehen und saufen.» Damit hat er bis weit über Offenbach hinaus Herzen erobert.

Als «Knapp daneben» noch in gedruckter Form erschien, pflegte ich einen regen Austausch mit deutschen Fussballfanzines. Der «Erwin» gehörte dabei immer zu meinen liebsten, und er steckte auch noch im Briefkasten, als «Knapp daneben» längst Geschichte war. Die Frauen und Männer aus Offenbach liessen in ihrem Heftchen die Hingabe hochleben in einer Art, die ihresgleichen suchte. Bekannt war der «Erwin» für seine seltsame, weil oft fussballferne Bildauswahl und seine poetischen Bildlegenden: «Bibbern in Bieber an eisfreiem Kunstgrün». Aus «Erwins» Texten sprachen die Liebe zum Fussball und immer auch die Gelassenheit jener, für die der Fussball nur Fussball ist und keine Metapher fürs Leben. «Ich bin in einem Stadion, nicht in einer Mehrzweckhalle,» schrieb der «Erwin» am 21. Oktober 2005 über ein Auswärtsspiel, «hier pfeift der Wind einem seitlich in den hochgestellten Jackenkragen, der Regen nervt, und die Bockwurst ist kalt. Willkommen am Tivoli, willkommen in Aachen.»

Die Nachricht von «Erwins» Ende liess mich wehmütig in jener Kiste wühlen, wo sich all die ertauschten Postillen verstecken aus Furcht vor der Papierabfuhr. «Keine Angst, ihr werdet nicht gebündelt», flüsterte ich und fing an zu wühlen: «Abseits» (SV Babelsberg 03), «Schalke Unser», «Sinn des Lebens» (1860 München), «Fan geht vor» (Eintracht Frankfurt), «Da sind wir aber immer noch» (Hansa Rostock), «Lila Laune» (Tennis Borussia Berlin), «Baufresse» (BFC Dynamo), «Blutgrätsche» (MSV Duisburg), «Notbremse» (Hannover 96), «In Teufels Namen» (Kaiserslautern), «Homer» (Lippstadt), «Hefdla» (Nürnberg), «Victory» (Türkiyemspor Berlin) und «Der Übersteiger» (St. Pauli) kamen zum Vorschein. Und das Bielefelder «Um halb vier war die Welt noch in Ordnung», dessen Macher dann nach Berlin zog, ein Heft namens «11 Freunde» gründete und heute im «Doppelpass» sitzt, der «Krombacher»-Expertenrunde auf DSF.

Die Stunden rannen dahin, Buchstabenketten so lange wie zwanzig aneinandergereihte Riesenkalmare drangen in mein Hirn, ich war mittendrin in der furiosen Welt der Fanliteratur. Am Ende fiel mir noch «Asseltours» in die Hände, ein Groundhoppingfanzine von Nürnberganhängern. Gut hundert Spiele hatten die jungen Herren innert zwölf Monaten besucht und über jedes geschrieben. Zum Beispiel so: «Die Zeit bis zum Anstoss verbrachten wir mutwillig im Park.» Besagter Park steht in Södertalje, «Asseltours» war auf dem Weg zum schwedischen Zweitligaspiel Assyriska Fören – FC Café Opera. Zweite schwedische Liga, einfach so. «Asseltours’» Fazit: «Bier gibt es keines, und von der Wurst sollte man besser die Finger lassen. Einziger Pluspunkt hier das Ketchup und der Senf zum Selbermelken.»

Ein Bekannter schrieb seine Lizenziatsarbeit in Volkskunde zur Fanzinekultur. Seine These, Fanzines seien weder Zeitungen noch Zeitschriften noch Magazine, sondern eine eigene Publikationssparte, wurde anlässlich eines Vortrags von altgedienten VolkskundlerInnen heftig angefochten. Dabei ging es weniger um die Zuordnung an sich als um die offenbar stossende Tatsache, dass sich hier jemand wissenschaftlich mit solch niederem Geschreibe befasst. Was sich zu einem gewissen Grad nachvollziehen lässt.

Aber nur zu einem gewissen Grad. Mir gefällt es zu lesen, dass jemand seine Zeit «mutwillig» in einem Park verbringt. Und ein Heft wie der «Erwin» hatte immerhin so viel Charisma, dass ich, ohne je auf Offenbachs Bieberer Berg gewesen zu sein, mich seit Jahren sehr verbunden fühle mit den Kickers und darum doch einigermassen niedergeschlagen war, als sie diese Woche im DFB-Pokal gegen Nachbar Frankfurt so erbarmungslos abgefertigt wurden. Der einzige Trost: Der «Erwin» muss darüber nichts mehr schreiben.