Urs Faes: Vaterschweigen, Mutterweinen

Nr. 15 –

Kindheiten in der Schweiz im und nach dem Zweiten Weltkrieg, scheiternde Eltern und verpasste Leben: Mit «Liebesarchiv» dreht Faes am Prisma seiner Schreibthemen weiter.

«Eines Tages fragten wir nicht mehr», heisst es einmal, «wir nahmen hin, dass der Vater verschwunden blieb.» Ein Mann erinnert sich an seine Kindheit, daran, wie sein Vater einen Sommer lang, mitten in den erstickend biederen fünfziger Jahren, verschwand. Viele Väter des Dorfes am Jurasüdfuss waren berufshalber zeitweise abwesend - Thomas’ Vater aber verliess Frau und Söhne, um mit einer anderen Frau zu leben.

Der abwesende Vater

Faes interessiert sich bei dieser Geschichte vor allem für die Auswirkungen der Abwesenheit des Vaters auf die Familie. Mit knapper, dichter Sprache, unter deren Oberfläche die Emotionen brodeln, erzählt Faes in «Liebesarchiv» vom vaterlosen Haus, in dem Thomas und sein jüngerer Bruder aufwachsen. Das Dorf sanktioniert die Abweichung von der familiären Norm, Thomas wird früh aus der Geborgenheit katapultiert. Als der Vater am Ende doch wieder auftaucht, freut sich niemand mehr; wie ein fremder Untermieter lebt er nach seiner Rückkehr mit der psychisch paralysierten Familie.

Die Vaterfigur - bedrohlich anwesend, sprachlos und brutal in Faes’ Roman «Augenblicke im Paradies» von 1994 - wird in «Liebesarchiv» zu einem gänzlich Fremden. Doch die Abwesenheit und zu späte Rückkehr des Vaters hinterlassen nicht weniger Spuren, der erwachsene Sohn trägt noch immer schwer an dieser «Vaterhypothek».

Die Erinnerung an die bedrückende Zeit kommt schubweise. Als die Geliebte seines Vaters stirbt und ihre Tochter Thomas bittet, Briefe, Fotografien und einige Gegenstände seines Vaters bei ihr abzuholen, möchte er sich verweigern. Trotzdem suchen ihn die Gefühle jenes Sommers im Jahr 1954 mit wachsender Intensität heim. Und er erinnert sich auch an die Liebe der Mutter zu einem jüdischen Flüchtling aus Lettland, die durch die Fremdenfeindlichkeit von SchweizerInnen verunmöglicht wurde - ein Motiv, das in Faes’ Roman «Sommerwende» einen zentralen Handlungsstrang bildet.

Wie in vielen seiner Romane verknüpft Faes in «Liebesarchiv» geschickt kleine und grosse Geschichte(n). Die Figuren, die er in wenigen präzisen Strichen entwirft, stehen in einer genau beschriebenen ländlichen Topografie, ihre individuelle Geschichte ist eng mit der kollektiven verflochten. Die Politik und die historische Stimmung in der Bevölkerung, ihre Ängste und Sehnsüchte bestimmen den Radius ihrer Reaktions- und Handlungsmöglichkeiten. Das wichtigste Epizentrum in der jüngeren Geschichte, das viele von Faes’ Figuren direkt und indirekt prägt, ist der Zweite Weltkrieg; die «Insel Schweiz» entpuppt sich als Chimäre. In «Sommerwende» von 1989 bestimmt die Nazifreundlichkeit im Land die Handlung - eine Darstellung, für die der Autor damals stark angegriffen wurde -, und in «Augenblicke im Paradies» finden zwei vertriebene Schlesier in der Schweiz Zuflucht.

«Liebesarchiv» nimmt diese Thematik mit leicht verschobenem Fokus wieder auf. Als junger Mann leistet Thomas’ Vater Militärdienst an der Grenze, wo sich viele Flüchtlinge vergeblich in Sicherheit zu bringen versuchten: eine bis heute emotional nicht wirklich aufgearbeitete Geschichte der Schweiz. Die mentale Enge des Landes in den fünfziger Jahren zeigt sich als eine Art posttraumatische Reaktion auf das Eingeschlossensein in den Kriegsjahren. Konflikte werden gewaltsam unter dem Deckel gehalten, Vaterschweigen und stummes Mutterweinen prägen auch Thomas’ Kindheit. Der Vater und die Mutter sehnen sich nach einem anderen Leben, beide Ausbruchsversuche scheitern katastrophal.

Umschichtungen

Die Motivvariationen in Faes’ Schreiben bilden aber nicht nur neue Konstellationen einer Grundstruktur; seine Auseinandersetzung mit diesem Stoff und wechselnden Figurenformationen ist ein Prozess, mit dem sich der heute Sechzigjährige schon Jahrzehnte beschäftigt. Die Umschichtungen bringen immer wieder neue Aspekte ans Licht. Diese poetologische Arbeit an und mit dem Erzählstoff spiegelt sich auch in Faes’ Schreibarchiv. Kürzlich innerhalb von Zürich umgezogen, hat er an seinem neuen Wohnort erstmals genug Platz, um alle Materialien zu seinen Texten unter einem Dach zu vereinen. In je einer Bordeaux-Kiste lagern die Fassungen eines Romans, dazu Karten, Bilder, Briefe, Fotografien - alles, was sich beim Recherchieren und Schreiben ansammelte. Und durch das Lagern seinen Gout verändert und vertieft. Die Umschichtungen innerhalb der losen Stoffkontinuität generieren nämlich nicht nur neue Perspektiven, sie entwickeln sich auch weiter. Urs Faes’ neuester Roman ist sein erstes Buch, das auch Möglichkeiten zur späten - vielleicht zu späten - Versöhnung mit dem Vater aufzeigt. Die Konfrontation mit dessen Liebesarchiv macht einen hoffnungsvollen, liebenden Mann sichtbar, den Thomas nie kennengelernt hat. So eröffnet die Vatersuche den Blick auf alternative Identitäten und erlaubt Thomas eine neue Sicht auf sein eigenes Leben.

Urs Faes: Liebesarchiv. Suhrkamp. Frankfurt am Main 2007. 227 Seiten. Fr. 34.30