IV-Abstimmung: Unzumutbar

Nr. 21 –

Angeschlagene Menschen sollen noch mehr unter Druck gesetzt werden - ein Blick in die Botschaft zur 5. IV-Revision weckt das kalte Grauen.

Arbeit macht krank. Dass der Druck am Arbeitsplatz immer grösser wird, ist nicht nur ein subjektiver Eindruck vieler Erwerbstätiger. Auch Menschen, die die Arbeitswelt wissenschaftlich erforschen, kommen zum gleichen Schluss. Martin Hafen, Dozent für Prävention und Gesundheit an der Hochschule für Soziale Arbeit in Luzern, erwähnt in einem Interview mit der Initiative Grundeinkommen das grosse Problem: Es gibt während der Arbeit - die einen grossen Teil der Lebenszeit ausmacht - kaum mehr Zeit für informelle Kontakte. Keine Zeit mehr für einen Schwatz mit KollegInnen, richtige Pausen, für Gespräche, die nicht Arbeitsgespräche sind. Das mache krank, sagt Hafen: «Die Leute fallen aus dem Arbeitsprozess raus, weil sie mit dem Druck nicht mehr zurande kommen und keine Dämpfungsmöglichkeiten in Form von informellen sozialen Kontakten mehr haben.» Viele Erwerbstätige landen deshalb früher oder später bei der IV. Das ist traurig und absurd, denn sie könnten durchaus arbeiten - wenn die Arbeitswelt nicht «antihumanistisch» wäre, wie es Martin Hafen nennt. Jetzt kommt die 5. IV-Revision. Sie hat das erklärte Ziel, die Zahl der Neurenten drastisch zu senken. Wie sollen diese Menschen, die den Druck nicht mehr aushalten, wieder arbeitstüchtig werden? Die IV verspricht ein interessantes Mittel: mehr Druck.

Das Angebot ist schuld

Dabei machen sich die IV-ReformerInnen zunutze, dass Erwerbsarbeit trotz allen Leidens für die meisten Menschen immer noch das ist, was dem Leben einen Sinn gibt. Noch mehr Angst als vor dem Arbeitsdruck haben wir davor, keine Arbeit zu haben. «Arbeit statt Fürsorge», das tönt doch gut. Wäre es wohl auch, wenn es noch Arbeit gäbe, die nicht nur flexible, junge, kinderlose, kerngesunde SelbstoptimiererInnen leisten können. Und wenn die IV-Revision die Firmen verpflichten würde, auch Alte, Angeschlagene und Amputierte anzustellen. Das tut sie aber nicht.

Die Botschaft zur 5. IV-Revision erwähnt zwar kurz, dass die starke Zunahme von psychischen Erkrankungen etwas mit «Veränderungen in der Arbeitswelt, unter anderem Beschleunigung und Verdichtung der Arbeit», zu tun haben könnte. Doch dazu gebe es «wenig erhärtete Daten» (es wäre nicht schwierig, solche zu bekommen), und anschliessend relativiert der Text das Problem gleich wieder: ÄrztInnen und Versicherte «reagieren auf psychische und soziale Faktoren ihres Umfeldes mit grösserer Sensibilität als früher». Psychische Erkrankungen seien «kein Tabuthema mehr. Folgerichtig wirkt heute eine Invalidität aus psychischen Gründen weniger stigmatisierend als früher» (fragen Sie einmal eine Frau mit Psychiatrievergangenheit, die eine Stelle sucht ...). Ausserdem habe die Zahl der PsychiaterInnen mit eigener Praxis stark zugenommen - «die Nachfrage wird deshalb durch das Angebot (mit-)bestimmt». Psychische Probleme haben also gar nicht zugenommen, sie werden nur häufiger behandelt als früher - oder sogar durch das bessere Behandlungsangebot künstlich hervorgerufen, ist das Fazit. So wird das Problem elegant aus der Welt geschafft.

Möglichst viele Menschen sollen wieder arbeitsfähig gemacht werden. Darum verschärft die 5. IV-Revision den Zumutbarkeitsbegriff. Das tönt dann so: «Artikel 21 Absatz 4 ATSG bestimmt sodann, dass Behandlungs- und Eingliederungsmassnahmen, welche eine Gefahr für Leben und Gesundheit darstellen, unzumutbar sind. Innerhalb dieses Rahmens soll nun aber neu festgehalten werden, dass prinzipiell jede Massnahme, welche der Eingliederung der versicherten Person ins Erwerbsleben oder in einen Aufgabenbereich dient, zumutbar ist.» Alles ist zumutbar, wenn es nicht gerade tödlich ist.

Der folgende Satz löst kaltes Grauen aus: «Anderseits ist das Zumutbarkeitsprinzip auch anzuwenden bei der Beurteilung der Frage, wie die Restarbeitsfähigkeit einer versicherten Person auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch verwertet werden kann.» Diese grausame Sprache weist weit über das konkrete Geschäft der IV-Revision hinaus. Sie zeigt, wo wir uns heute befinden: Die Zeit des sozialstaatlich abgefederten Kapitalismus ist endgültig vorbei. Wir sind auf dem Weg zurück in den rohen Kapitalismus der Frühindustrialisierung. Wer sich nicht verwerten lässt, ist nichts wert (auf Lateinisch heisst das invalid).

Objektiv tuts nicht weh

Eine IV-Rente soll künftig nur noch bekommen, wer wegen eines Gesundheitsschadens nicht mehr arbeiten kann. Sogenannte invaliditätsferne Gründe wie Suchtprobleme, soziale Situation, Alter oder schlechte Chancen auf dem Arbeitsmarkt werden nicht mehr berücksichtigt. Leute, die aus solchen Gründen aus der IV rausfallen, werden aber keine Jobs finden. Sucht, Armut, Ausgrenzung machen krank, es gibt genug Studien darüber. Diese Leute werden sich wohl einfach so lange durch irgendwelche Beschäftigungsprogramme quälen, bis sie auch «objektiv» körperlich krank sind.

«Subjektiv» und «objektiv» sind zentrale Begriffe in der Botschaft zur IV-Revision: «Neu wird ausdrücklich festgehalten, dass das subjektive Empfinden der versicherten Person bei der Beurteilung der Zumutbarkeit, eine Arbeitsleistung zu erbringen und damit ein Erwerbseinkommen zu erzielen, in Zukunft nicht mehr massgebend ist. Entscheidend ist, ob dieser Person aus objektiver Sicht zugemutet werden kann, trotz der subjektiv erlebten gesundheitlichen Probleme (z.B. Schmerzen) einer Arbeit nachzugehen.» Eine Schmerzpatientin, der «objektiv» nichts fehlt, soll, wenn nötig schreiend vor Schmerzen, zu einer Arbeit geprügelt werden. Oder ein Depressiver: Was ist denn sein Problem, «objektiv» gesehen? Er hat doch alles, was er zum Leben braucht!

Glaubt irgendjemand wirklich, so würden Menschen geheilt? Werden Menschen, die so behandelt werden, langfristig eingegliedert? Nein, unter diesen Bedingungen sinkt ihre «Restarbeitsfähigkeit» wohl ziemlich schnell gegen null. Wenn aber die Eingliederung nicht funktioniert, geht auch das mit dem Sparen schief. Kurzfristig ist zwar das IV-Budget geschönt, aber die Kosten werden verlagert zur Sozialhilfe und zu den Ergänzungsleistungen. Mittelfristig werden viele, die aus der IV fallen, so krank werden, dass sie dann doch wieder bei ihr landen. In den Niederlanden hat diese Entwicklung bereits stattgefunden (siehe untenstehenden Text von Kurt Wyss).

Der Scheininvalidenverdacht ist die Basis der 5. IV-Revision. Die jahrelange Entsolidarisierungsarbeit der Rechten ist endgültig auf der Gesetzesebene angekommen. Wer genau das, was die Leute krank macht, als Heilmittel propagiert, sagt nichts anderes als: Die sind gar nicht krank. Die tun nur so. Mit etwas Härte kommen sie schon wieder zur Vernunft. Darauf gibt es nur eine vernünftige Antwort: Ein Nein zur 5. IV-Revision am 17. Juni!

aus WOZ Nr. 13/06: : Eingegliedert und ramponiert

In den Niederlanden wurde der Sozialdemokrat Wim Kok im Jahr 1994 zum neuen Premierminister gewählt. Kok stellte seine Regierungsarbeit unter den Slogan «Arbeit, Arbeit, Arbeit» und intensivierte damit eine Politik, die schon von der christlich-demokratischen Vorgängerregierung unter Ruud Lubbers ab den späten achtziger Jahren vorangetrieben worden war. Die von Langzeitarbeitslosigkeit betroffenen Personen sollten mittels Workfare-Massnahmen - «Arbeit statt Fürsorge» - wieder in den ersten Arbeitsmarkt integriert werden. Von dieser Politik waren auch die BezügerInnen von Geldern aus der Invalidenversicherung betroffen. Konkret wurde bei der Zusprechung von IV-Renten eine härtere Linie gefahren (mehr Ablehnungen), und auch die bestehenden Renten wurden mittels Neuüberprüfungen einem härteren Regime unterworfen. In den neunziger Jahren ergriffen die Niederlande damit genau diejenigen repressiven Massnahmen, die gegenwärtig in der Schweiz im Zusammenhang mit der 5. IV-Revision geplant und teilweise schon im Vorgriff (grössere Ablehnungsraten) umgesetzt worden sind. Es lohnt entsprechend, sich den niederländischen Fall näher anzusehen.

Die niederländische Workfare-Politik in der IV hatte zunächst zur Folge, dass weit weniger Personen eine IV-Rente zugesprochen erhielten als im internationalen Vergleich und dass gleichzeitig sehr viel mehr Personen als üblich ihre Rente wieder verloren. Im Jahr 1995 betrug die Austrittsrate aus der Invalidenversicherung in den Niederlanden etwa sieben Prozent, in den meisten anderen europäischen Ländern dagegen lediglich etwa ein Prozent. Die Massnahmen führten bis Mitte der neunziger Jahre zu einem Allzeittief bei den Eintrittsraten und zu einem Allzeithoch bei den Aus trittsraten und den Ablehnungsraten (verweigerte Renten). «Es schien, dass diese Entwicklungen eine Erfolgsgeschichte würden», hält eine Studie der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) fest.

Die Erfolgsgeschichte verkehrte sich aber relativ rasch in einen Albtraum. Nach 1995 kehrten sich die Trends bei Eintritts- und Austrittsraten nämlich wieder um, und die Rate der BezügerInnen von Leistungen der Invalidenversicherung begann - ausserordentlich stark - wieder anzusteigen. Gemäss den Ausführungen der OECD war die Zahl der Rentengesuche im Jahr 1999 höher als jemals zuvor. Was war geschehen?

Es ist davon auszugehen, dass im Zuge der repressiven Massnahmen vielen Menschen das Anrecht auf eine IV-Rente verwehrt wurde, die infolge einer chronischen Erkrankung oder einer Behinderung auf eine solche angewiesen gewesen wären. Infolge der Rückweisung waren diese Menschen gezwungen, die Workfare-Mühlen der Arbeitslosenversicherung oder der Sozialhilfe zu durchlaufen - infolge ihrer Krankheit oder ihrer Behinderung ohne realistische Chance, wieder eine Stelle zu finden. In dieser Zeit dürfte die Lage dieser Menschen sich sowohl in psychischer als auch in körperlicher Hinsicht verschlechtert haben - derart, dass man ihnen schliesslich doch noch eine IV-Rente zusprechen musste. Entsprechend drastisch nahmen die Eintrittsraten zu.

Auch niederländische WissenschaftlerInnen stellen den Workfare-Massnahmen ein schlechtes Zeugnis aus: «Was (teilweise) behinderte ArbeitnehmerInnen betrifft, kann man klar sagen, dass die Massnahmen ineffektiv und sogar kontraproduktiv sind», schreibt der Sozialwissenschaftler Wim van Oorschot von der Universität Tilburg. In der erwähnten OECD-Studie wird im Weiteren darauf hingewiesen, dass die USA unter Ronald Reagan schon in den achtziger Jahren denselben Weg gegangen sind und seit den neunziger Jahren auch Norwegen die gleiche Politik betreibt.

Das Grundproblem, das jetzt auch mit der in der Schweiz geplanten und teilweise im Vorgriff umgesetzten 5. IV-Revision geschaffen wird, ist dasselbe wie in den Niederlanden: Die Abweisung von Antragstellenden und die Aufhebung bestehender Renten führt zwar zu einer «Verschönerung» der Statistik respektive zu finanziellen Einsparungen bei der IV. Die betroffenen Menschen verschwinden aber nicht etwa, sondern durchleben im Versteckten eine Leidenszeit und werden sich früher oder später wieder bei der IV melden müssen - dann aber in einem sehr viel ramponierteren Zustand.

Kurt Wyss

Kurt Wyss ist in Zürich als freiberuflicher Soziologe tätig.

OECD: «Transforming Disability into Ability. Policies to Promote Work and Income Security for Disabled People». Paris 2003. 220 Seiten. Fr. 56.50.