Durch den Monat mit Ruth Dreifuss (Teil 3): Gehen Sie aufs Rütli?

Nr. 24 –

WOZ: Welches ist Ihre schönste Erinnerung an den 14. Juni 1991, als in der Schweiz die Frauen streikten?
Ruth Dreifuss: Es gibt so viele. Ich selber war in Genf an der Internationalen Arbeitskonferenz. Plötzlich stand eine ILO-Mitarbeiterin auf und verlangte die Aufmerksamkeit des Präsidenten. Sie trug Fuchsiarot, die Farbe des Frauenstreiks, und erklärte vor den internationalen Delegationen den Sinn dieses Streiks. Die Delegierten entdeckten ein ganz neues Gesicht der Schweiz. Ein weibliches Gesicht.

Tragen Sie die Sonnenbrosche noch, die Sie zwei Jahre später bei 
Ihrer Wahl zur Bundesrätin im März 1993 trugen – das Zeichen für die Forderung der Frauen nach einem Bundesratssitz?
Ich trage sie oft. Wenn nicht, dann meistens ein anderes Schmuckstück in Form einer Sonne.

Wie erlebten Sie die erzwungene Konkurrenz, als die SP Sie und Ihre «politische Zwillingsschwester» Christiane Brunner aufstellte, weil die Bürgerlichen Brunner nicht wollten?
Die Krise dieser Märzwoche 1993 war für viele aufwühlend und schmerzlich. Christiane hatte den Wunsch nach einer Teilnahme der Frauen an der Macht wie keine andere verkörpert und politisch bewusst gemacht. Wie sie dann am Tag der Wahl auf dem Bundeshausplatz weiterhin Mut spendete, war ebenso beeindruckend.

Damals kommentierten die Medien, Brunner sei unter anderem wegen ihrer Haltung zum Frauenstreik nicht gewählt worden.
Das stimmt nicht. Wahr ist jedoch, dass eine Frauenwahl als alles andere als normal betrachtet wurde. Es kam zu dieser unwürdigen, frauenfeindlichen Schlammschlacht gegen Christiane. Es brauchte den Verzicht von Francis Mathey, der als Bundesrat bereits gewählt war. Dann erst merkten die bürgerlichen Parteien, dass es der SP ernst war.

Wie lange hat der Frauenstreik nachgewirkt – bis zu Ihrer Wahl?
Bis heute. Meine Wahl zur Bundesrätin war ein Späterfolg des Streiks. Weitere Wahlerfolge von Frauen folgten, man sprach vom «Brunner-Effekt». Und auch in der Gewerkschaftsbewegung ist seit dem Streik nichts mehr wie vorher.

Trotzdem ist der gleiche Lohn für gleiche Arbeit noch nicht Realität und die Arbeitsteilung im Haushalt ebenso wenig.
Die gesetzliche Gleichstellung war nur der erste Schritt. So wurden Instrumente geschaffen, um im täglichen Leben dieselben Chancen zu realisieren. Zum Teil sind wir aber mitten im Fluss stecken geblieben. Das Bestreben der Frauen, Familienverantwortung und berufliche Entwicklung zu vereinbaren, wurde nicht begleitet von besseren Angeboten im Bereich von Krippen, Tagesschulen und Teilzeitarbeit.

Heute sollen die Feministinnen und ihre Forderung nach Frauenarbeit an allem schuld sein. An gescheiterten Beziehungen, am Versagen der Kinder in der Schule, an der Jugendgewalt.
Die Frauen sind schon immer an allem schuld gewesen! In den USA sagte man ihnen während des Kriegs, sie müssten in die Rüstungsindustrie arbeiten gehen, sonst würden die Boys in Europa sterben. Und nach dem Krieg sagte man ihnen, sie müssten an den Herd zurück, sonst seien sie schuld an der Arbeitslosigkeit der heimkehrenden Boys ... und an der Kriminalität ihrer Kinder. Dank dem Feminismus haben wir gelernt, uns zu wehren, wenn man in uns Schuldgefühle wecken will. Ich jedenfalls fühle mich nicht schuldig. Ich bedauere nur, dass ich nicht mehr bewirken konnte in diesem hoffnungsvollen und grausamen 20. Jahrhundert.

Hat der heutige Feminismus noch den Anspruch, etwas zu verändern?
Die Gleichstellung von Frau und Mann ist die grösste, friedlichste, erfolgreichste und nachhaltigste Revolution, die es eben im 20. Jahrhundert gegeben hat. Eine permanente Revolution, wie man in einem andern politischen Kontext sagte. Sie dauert an.

Träumen Sie noch von der Revolution?
Eine tiefe Veränderung ist nicht nur möglich, sie ist notwendig. Aber es gibt kein Modell, das wir vom Regal nehmen können. Und es gibt keinen anderen Weg als konsequente, demokratisch abgestützte Reformen. Wir sind nüchterner geworden, und das ist gut so. Der Traum vom grossen Umsturz, der auf einen Schlag alles verändert, wurde ja ein Alptraum.

Gehen Sie mit Micheline Calmy-Rey aufs Rütli?
Wahrscheinlich nicht. Aber sie hat recht, nicht klein beizugeben. Diese Feier ist zu einem politischen Spielball geworden, mit einem üblen Beigeschmack von Geiz und Rappenspalterei. Das ist eine traurige Realsatire: «Pas d’argent, pas de Suisses ...»

Gibt es einen linken Nationalismus?
Nein. Aber einen linken Patriotismus. Wir sind ebenso mit unserer Landschaft, mit unserer Geschichte und unserer Gesellschaft verbunden. Allerdings ohne Ausschluss und Ausschliesslichkeit. Ich würde sagen, es ist ein reiner Patriotismus. Ohne Nationalismus.

Ruth Dreifuss, geboren 1940, Lizenziat 
in Wirtschafts- und Sozialwissenschaften an der Universität Genf, Sekretärin des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes, Mitglied des Bundesrates von 1993 bis 2002, erste Bundespräsidentin der Schweiz 1999.