Psychiatrie und Gesellschaft: Anstalten machen

Nr. 24 –

Kritik am Mikrokosmos Psychiatrie ertönt immer dann, wenn der Makrokosmos Gesellschaft in eine Krise kommt. Was aber hat das eine mit dem anderen zu tun? Ein Interview mit der Historikerin Brigitta Bernet.

WOZ: Sie haben zusammen mit drei anderen HistorikerInnen die Zürcher Psychiatriegeschichte erforscht. Was hat Sie auf das Thema gebracht?

Brigitta Bernet: Wir haben einen Auftrag von der Zürcher Gesundheitsdirektion bekommen. Der Anstoss dazu kam aus dem Kantonsrat, dieser forderte im Jahr 1999 die Aufarbeitung der Zürcher Psychiatriegeschichte. Im Brennpunkt standen damals die eugenischen Praktiken. Weil das Thema bis dahin kaum erforscht war, gab es viel Raum für Spekulationen und Pauschalurteile. Eine solche Ausgangslage hat allerdings auch ihre Tücken.

Weshalb?

Wenn ein Thema so stark politisch aufgeladen ist, muss man aufpassen, dass man vor lauter Tagesaktualität die historischen Fakten nicht aus den Augen verliert. Mediale Zuspitzungen folgen oft einer Logik des Skandals. Und gerade beim Thema Psychiatrie ist die Gefahr gross, Mythen - helle und dunkle - zu bedienen.

Welche Mythen sind das konkret?

Die Psychiatrie hat ein problematisches Doppelmandat: Sie hat zwar einen therapeutischen Zweck, wirkt aber auch ordnungspolitisch. Der helle Mythos sieht nur die erste Seite und verbindet die Psychiatrie mit medizinischem Fortschritt. Zwar haben sich die Verhältnisse in den Anstalten verbessert. So wurde etwa das Personal aufgestockt und das Therapieangebot erweitert. Dennoch ist diese Darstellung unvollständig.

Die Antipsychiatrie der siebziger Jahre hat dann die «dunkle Legende» der Psychiatrie erzählt.

Genau. Sie hat die Anstalt als Ort der Repression beschrieben, wohin Menschen, die aus dem Rahmen fallen, weggesperrt werden. Diese Sicht ist ebenso einseitig. Wir haben versucht, uns von diesem Schwarz-Weiss-Schema zu lösen und beide Seiten der Psychiatrie angemessen zu beschreiben.

Ihre Untersuchung beginnt im Jahr 1870. Damals wurde die psychiatrische Heil- und Pflegeanstalt Burghölzli eröffnet. Sie ist zum Inbegriff der Schweizer Psychiatrie und ihrer dunklen Kapitel geworden. Stichworte wären Eugenik und Zwang.

Es ist wichtig, das Thema Eugenik aufzuarbeiten. Die Akten der Zürcher Poliklinik zeigen beispielsweise, dass bei rund einem Drittel der Sterilisationen in der Zwischenkriegszeit eugenisch argumentiert wurde. Es wäre jedoch falsch, Zwang vorschnell auf Eugenik zu begrenzen. Zwang ist in der Moderne überall präsent, nicht nur in psychiatrischen Anstalten. Das gilt bis heute. Das Thema lässt sich nicht einfach auf einige konkrete Massnahmen eingrenzen und dann historisieren. Auch stellt sich die Frage, ob es eine Kontinuität gibt zwischen der Eugenik und heutigen «freiwilligen» Techniken wie der pränatalen Diagnostik.

Zwang ist ein zentrales Thema Ihrer Studie. Wie lässt sich Zwang in der Psychiatrie überhaupt rechtfertigen?

Man muss sehen, dass sich die Wahrnehmung und die Bewertung von psychiatrischem Zwang im Lauf der Zeit stark verändert haben. Grundsätzlich stellt die Zwangsbehandlung einen Eingriff in die verfassungsmässig gesicherten Grundrechte dar, der jedoch in Notsituationen verhältnismässig sein kann. In unseren Akten gibt es den Fall einer Patientin, die während Monaten eine Zwangsjacke erhielt, weil sie sich sonst ein Auge ausgekratzt hätte. Ein solcher Zwang wird auch heute noch als verhältnismässig angesehen, weil er sich mit Selbstschutz, dem Wohl der Frau begründen lässt.

Welche Art von Zwang gilt aus heutiger Sicht nicht als legitim?

Zwang, der im Namen von sozialen Interessen oder im Namen des Fremdschutzes erfolgt, wird heute besonders kritisch bewertet. Das war anders vor hundert Jahren, als das Leitbild des «gesunden Volkskörpers» wirksam war. Psychiatrische Massnahmen sollten damals für ein gesundes nationales Kollektiv sorgen und die Gesellschaft vor sogenannt «minderwertigen Menschen» schützen. Aus heutiger Sicht ist die zwangsförmige Durchsetzung solcher Interessen nicht mehr zu rechtfertigen. Heikel wird es dann, wenn psychiatrischer Zwang zwar mit Therapie begründet wurde, im Grunde aber anderen Zielen diente. Die meisten Massnahmen, die wir untersuchten, fallen in diesen Graubereich.

Zum Beispiel?

Ich denke an einen aufgeregten und lärmenden Patienten, der eine dreiwöchige Schlafkur machen musste, weil die Anstalt überfüllt war. Für das überforderte Personal war es eine Erleichterung, wenn unruhige Leute dämmerten. Die Massnahme diente jedoch in erster Linie der «Klinikordnung» und nicht dem Wohl des Patienten. Oder nehmen wir die Internierung selbst, die bis in die siebziger Jahre meist unfreiwillig erfolgte: Auch hier wurde meist das Argument des Selbstschutzes vorgebracht. So musste man nicht mehr thematisieren, dass die Massnahme auch dem Fremdschutz diente, nämlich dem Schutz der «Gesellschaftsordnung».

Waren Frauen und Männer gleichermassen von psychiatrischen Massnahmen betroffen?

Nein, das gleiche Verhalten bei Frauen und Männern wurde anders bewertet: Wenn eine Frau laut wurde und zum Beispiel Mobiliar zerstörte, griffen die Ärzte schneller ein. Wir haben gesehen, dass Frauen eher als «haltlos» oder «krank» angesehen wurden, «härtere» Diagnosen erhielten und häufiger therapiert wurden als Männer. Drastisch zeigt sich das bei den sogenannten Lobotomien der Nachkriegszeit (operative Eingriffe am Hirn - Anm. d. Red.), von denen fast drei Viertel in Zürcher Kliniken an Frauen durchgeführt wurden - und nur ein Viertel an Männern.

Wie lassen sich diese Unterschiede erklären?

Das hat mit der «Geschlechterordnung» zu tun, die in die psychiatrische Anstalt hineinspielte. Für weibliches Verhalten waren die Normen lange sehr rigid. Man darf aber nicht ausblenden, dass Frauen sich aus dem gleichen Grund auch schneller selbst als krank wahrnahmen, wenn sie aus der Rolle fielen.

Wie ist es heute?

Nicht anders. Dieser Zusammenhang gilt natürlich nicht nur für die Kategorie Geschlecht. Nehmen wir ein anderes Beispiel aus der aktuellen medizinischen Diskussion: den Begriff des Normopathen.

Was muss man sich darunter vorstellen?

Als Normopathen werden Menschen bezeichnet, die in ihrer Lebensführung auf klare Regeln und einen stabilen Rahmen angewiesen sind. Es ist kein Zufall, dass ein solches Krankheitsbild in einem Moment auftaucht, in dem der Sozialstaat abgebaut und die gesellschaftlichen Verhältnisse unsicherer werden.

Nicht nur neue Krankheitsbilder entstehen, wenn sich die Gesellschaft wandelt. Auch Psychiatriekritik wird vor allem dann laut, wenn die Gesellschaft in einer Krise ist.

Das ist eine wichtige Beobachtung. Wenn sich die gesellschaftlich gültigen Regeln ändern, verändert sich auch die Bewertung der Psychiatrie - eben weil sie die sozialen Normen in gewissem Sinne auch vertritt. Psychiatriekritik ist darum immer auch Gesellschaftskritik.

Die Psychiatriekritik sprach sich für eine «Befreiung der Geisteskranken» aus. War das in Zürich auch so?

Schon frühe Zürcher Psychiater wie August Forel oder Eugen Bleuler wollten die «Irren» befreien. Ende des 19. Jahrhunderts lebten Geisteskranke oft in misslichen Verhältnissen und wurden, wie damalige Psychiatriekritiker bemerkten, wie Tiere in Ställen gehalten. Die Überführung in medizinische Obhut erschien da in der Tat als Befreiung. In den sechziger und siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts war das Argument dann genau umgekehrt: Die Antipsychiatrie wollte die Geisteskranken aus der Anstalt befreien und forderte deren Schliessung.

Heute sind es die Rechten, die fordern, dass staatliche Anstalten geschlossen werden, zum Beispiel die Klinik Hohenegg in Meilen.

Ja, neoliberale ReformerInnen greifen heute auf diese Argumente zurück, um im Gesundheitswesen Kosten einzusparen. Interessant ist, wie die Betroffenen darauf reagierten: Als die Hohenegg redimensioniert werden sollte, kam es zu Protesten von ehemaligen PatientInnen. In ihrer Wahrnehmung ist offenbar die Gesellschaft zwangsförmig geworden, die Anstalt dagegen erschien ihnen als Ort für eine befreiende Auszeit von sozialen Zwängen.

Verkehrte Welt?

Verkehrt, ja. Vielleicht sogar ein bisschen verrückt ...

Vollzieht sich nun im Neoliberalismus das, was der Antipsychiatrie nicht gelang: die Abschaffung der Anstalten?

Zumindest werden sie nun privatisiert. Die Frage ist, ob man sich darüber freuen soll.

Ist denn die Anstalt, wie wir sie heute kennen, ein Auslaufmodell?

Prognosen kann ich keine abgeben. Man sieht einfach, dass aktuelle Entwicklungen wie der Ausbau dezentraler und ambulanter Betreuung, die boomenden Psychotherapieberufe oder der steigende Absatz von Psychopharmaka zu einer «Psychiatrisierung des Alltags» führen. Der französische Philosoph Michel Foucault hat einmal das Panoptikum als totales Überwachungsgefängnis beschrieben, das faktisch nie gebaut wurde, weil die Gesellschaft selbst zu einem Panoptikum geworden sei. So kann man sich auch fragen, ob der Alltag von der Psychiatrie schon so weit durchdrungen ist, dass es diese Anstalten nicht mehr braucht.

Und der Zwang, verschwindet der damit?

Nein, auf keinen Fall. Die Zwangsjacke ist zwar verschwunden. Angesichts der heutigen Psychopharmaka stellt sich die Frage nach dem Zwang einfach anders. Sicher lässt sich Zwang nicht mehr so einfach in den Institutionen des Staates lokalisieren.

Der Zwang ist subtiler geworden?

Ja, es scheint so. Es mag paradox klingen, aber heute könnten wir vielleicht vom «Zwang zur Freiheit» sprechen. Der amerikanische Soziologe Richard Sennett hat dies mit dem «flexiblen Menschen» zu fassen versucht. Dieser muss Eigenverantwortung übernehmen - und ist schliesslich auch dort auf sich gestellt, wo er die Verhältnisse gar nicht beeinflussen kann.

Selbstverwirklichung und Autonomie wird zum Gebot?

Ja, und viele Menschen sind überfordert damit. Auf jeden Fall scheint es mir wichtig, die Rufe nach Empowerment und Selbstverantwortung, wie sie jüngst in der Debatte um die IV-Revision wieder erklingen, nicht leichtfertig mit Emanzipation zu verwechseln.

Einst positive Begriffe sind heute heikel geworden ...

Der Inhalt hat sich verändert. Ich glaube, es ergibt Sinn, einen Freiheitsbegriff zu kultivieren, der sich nicht in diesen Schlagworten erschöpft.


Brigitta Bernet / Roswitha Dubach / Urs Germann / Marietta Meier: «Zwang zur Ordnung. Psychiatrie im Kanton Zürich, 1870 - 1970». Unter Mitarbeit von Gisela Hürlimann, mit einem Schlusswort von Jakob Tanner. Chronos Verlag 2007. 348 Seiten, 40 Abbildungen. 48 Franken.

Zwang zur Ordnung

Was soll die Gesellschaft mit Menschen machen, die das Zusammenleben stören, Grenzen überschreiten und für «Ordnungsstörungen» sorgen? Für diese «unvernünftigen» Menschen hat sie die Psychiatrie beauftragt, die «Geisteskrankheiten» mit ärztlicher Hilfe heilen soll - wenn nötig auch unter Zwang. Dieser «Zwang zur Ordnung» ist eine heikle Sache. Die vier HistorikerInnen Brigitta Bernet, Roswitha Dubach, Urs Germann und Marietta Meier haben ihn als Ausgangspunkt genommen, um der Geschichte der Psychiatrie im Kanton Zürich auf den Grund zu gehen.

Im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms «Integration und Ausschluss» haben die vier HistorikerInnen über mehrere Jahre hinweg verschiedene Aspekte der Psychiatriegeschichte im Kanton Zürich untersucht. Darunter fallen auch die Sterilisationspraxis der Psychiatrischen Poliklinik der dreissiger Jahre und die Psychochirurgie, die zwischen 1945 und 1970 mit Eingriffen am Gehirn «asoziales Verhalten» therapieren wollte.

Brigitta Bernet, 34, ist Historikerin und arbeitet an der Forschungsstelle für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte an der Universität Zürich. Zurzeit schreibt sie an einer Dissertation zur Kultur- und Wissenschaftsgeschichte der Schizophreniediagnose um 1900.