Fernsehkritik: Offene Brüche, klaffende Wunden

Nr. 40 –

Eine Sendung im Spätprogramm von MTV lässt einem neuerdings das Blut in den Adern gefrieren: «Scarred» (Vernarbt). Gezeigt werden Videos von jungen weissen Amerikanern - Frauen kommen so gut wie keine vor - , denen bei der Ausübung ihres Hobbys ein Missgeschick passiert. Sie stürzen in Abgründe, fahren in Bäume, fallen Treppen herunter und schleifen über den Asphalt. Offene Brüche, klaffende Wunden, Blut. Alles vor laufender Kamera, alles unzensiert, in Zeitlupe wiederholt und mit Musik unterlegt - ausser da, wo man das Brechen eines Fussgelenks nicht nur sieht, sondern auch hört. Die zurückbleibenden Narben geben der Sendung ihren Namen.

Schon vor sechs Jahren lancierte MTV ein ähnliches Format, das für Empörung und Quoten sorgte. Es hiess «Jackass». Die Sendung zeigte das Vergnügen professioneller Schwachköpfe am arrangierten Hauen und Stechen ihrer selbst. «Jackass» war eine treffende Darstellung selbstausbeuterischer Verhältnisse im zeitgenössischen Kapitalismus. Was aber ist «Scarred» - abgesehen von der Tatsache, dass es härter ist als alles bisher Gezeigte?

«Scarred» beschäftigt sich fast ausschliesslich mit so genannten Funsportarten: Skateboard, Inlineskating, Snowboard, BMX. Sie heissen so, weil bei ihnen das subjektive Erleben, der Fun, zählt, während im traditionellen Sport das Gelingen im objektiven Wettbewerb gemessen wird. Funsport legt Wert auf Selbstdarstellung. Videos von Kunststücken der Athleten sind zu einem eigenen Genre geworden. Sie sind wichtiger als Ranglisten, denn Funsportarten sind informell organisiert - und trotzdem hochkommerziell. Die Videos sind pure Werbung - für den Akteur selbst. «Scarred» zeigt das, was sonst meistens nicht zu sehen ist: das Scheitern. Nach dem Hochmut kommt der Fall auf den Asphalt. So ist die Sendung eine alternative Form der Sportberichterstattung, zugeschnitten auf Funktionsweise und Ästhetik der Funsportarten. Sie beschreibt, was auch zum Fun gehört: Schmerz.

Das Ziel bleibt dasselbe: Werbung in eigener Sache. Manchmal sind die Protagonisten nicht sicher, ob die Narbe ihres Hodenrisses ein Schmiss oder ein Stigma ist. Sie wissen lediglich, dass über einen gelacht wird, der sich beim Sturz auf den Kopf - und mitten in die Bewusstlosigkeit - in die Hose macht; und sie erzählen diese Geschichten vom eigenen Scheitern deshalb mit einem breiten Grinsen. Und machen alle weiter. Das ist denn auch der Inhalt dieser Sportberichterstattung: Wie man eines Besseren belehrt wird, ohne das Fürchten zu lernen.


«Scarred». Jeweils freitags, samstags und sonntags auf MTV. Sendezeiten variieren zwischen 23 Uhr und 0.30 Uhr.