Deutschland im Herbst 1977 (2): Der Stachel sitzt noch tief

Nr. 41 –

Befreiungstheologie und Internationalismus standen am Anfang, dann reagierte der Staat. Und am Schluss sicherten sich Staatsschutz und RAF fast zwei Jahrzehnte lang gegenseitig die Existenz. Wars so?

Eine Generation dauert es, bis ein Ereignis abgehangen ist und der historischen Bearbeitung zugänglich wird. Nach dreissig Jahren erlischt auch der Persönlichkeitsschutz, dann öffnen die Archive in der Regel ihre Bestände. Manche Ereignisse - gerade in der deutschen Vergangenheit - sind allerdings so ausserordentlich, dass sie sich auch nach dieser Frist nicht in den Staubmantel der Geschichte hüllen lassen. Der Holocaust, um das Dramatischste zu nennen, ist erst nach fast vierzig Jahren in das Bewusstsein der deutschen Bevölkerung vorgedrungen.

Im Vergleich dazu nimmt sich der sogenannte Deutsche Herbst, der sich nun zum dreissigsten Mal jährt, wie eine zu vernachlässigende Fussnote aus. Doch die Art, wie das Ereignis derzeit medial verbreitet wird, die Gnadenlosigkeit, mit der über die Begnadigung des RAF-Mitglieds Christian Klar verhandelt wurde, und der Eifer, mit dem sich die Linke zum wiederholten Male von den Ereignissen 1977 distanziert und der Staat doch noch Geständnisse zu erpressen hofft - all dies verweist darauf, dass der Deutsche Herbst auch nach drei Jahrzehnten schlecht abgehangen ist, historisches Gammelfleisch sozusagen, das in den Mägen rumort.

Die 68er und die Gewalt

Einen Versuch, den Ursachen dieser Verdauungsprobleme auf die Spur zu kommen, unternimmt der Münchner Journalist Willi Winkler in seiner Studie mit dem anspruchsvollen Titel «Die Geschichte der RAF». Anspruchsvoll, weil er damit nicht eine weitere Version der sattsam bekannten Mär von den wild gewordenen Bürgerkindern vorlegen will, die sich im Namen der unterdrückten Menschheit eine neue Gesellschaft zu erschiessen versuchten. Sondern es geht ihm um die eine, die gültige Geschichte schlechthin, für die Ulrike Meinhof, zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung, Patin steht. Gerne hätte man, so Winkler in seinem Prolog, die «Frau auf dem Dachboden», die als Untote immer noch umhergeis-tert, nachträglich für verrückt erklärt und damit auch das ganze Projekt RAF. Aber das Unruhestiftende ist nicht das kranke Hirn der Meinhof, sondern die verdrängte Erinnerung daran, «dass die Gewalt beim starken Wort begann und erst in der Reaktion auf staatliche Gewalt in Terror umschlug».

Winkler geht in seiner gründlich recherchierten, in der Art eines Stationendramas inszenierten Untersuchung weit zurück in die Nachkriegszeit, um von dort aus die unterschiedlichen Herkünfte und Wege derer nachzuzeichnen, die in den sechziger Jahren in Berlin eine Rolle spielen sollten. Seine Frage, woraus sich der spätere Gewaltexzess theoretisch speiste, führt ihn zu Theoretikern wie Frantz Fanon, der den antikolonialen Befreiungsbewegungen die Vorlage für ihren gewalttätigen Widerstand geliefert hatte. «Wenn das Gewehr spricht», übersetzt Winkler dessen Credo, «findet der Mensch seine Sprache.»

Diese Form der Befreiungstheologie wurde wie überhaupt der Internationalismus zum zentralen Bezugspunkt der späteren Stadtguerilla. Durch die Allianz mit den geknechteten Völkern, so eine zentrale These Winklers, glaubte man nicht nur, sich der ungeliebten deutschen Haut und Vergangenheit entledigen, sondern auch den von den Eltern im Nationalsozialismus versäumten Widerstand nachholen zu können. Die Überzeugung, dass der Minderheit ein Notwehrrecht zustünde, trieb den Kampf gegen die Notstandsgesetze ebenso an wie den Protest gegen den Vietnamkrieg oder den Springer-Konzern. Die Gewaltfrage war für die Minderheit, die die 68er-Bewegung trug, legitim. Sie harrte auf Antwort.

Ohne Frage waren es aber nicht die fantasiereichen Befreier von Fanon bis Che Guevara, sondern die staatliche Gewalt, die Erschiessung Benno Ohnesorgs am 2. Juni 1967, die die Militarisierung des Widerstands beschleunigte. «Wie wäre unsere Geschichte verlaufen», zitiert Winkler den Spassguerillero und RAF-Konkurrenten aus der Bewegung 2. Juni Fritz Teufel, «wären deutsche Polizisten nach 1945 wie die englischen Kollegen grundsätzlich ohne Schiesseisen rumgelaufen?» Das Opfer Ohnesorg (und, in geringerem Ausmass, Rudi Dutschke, der 1968 nur knapp ein Attentat überlebte, an dessen Spätfolgen dann aber starb) wirkte auf die Bewegung wie eine Initialzündung, und es lieferte dem Politspektakel der 68er die Märtyrerfigur, zu der es in der linken Eschatologie 1974 nur noch einmal Holger Meins bringen sollte.

Das Jahr 1970 war der Wendepunkt: Während die einen den Marsch durch die Institutionen antraten, die anderen in maoistischen K-Gruppen die Massen zu mobilisieren hofften, verlegte sich eine winzige Minderheit darauf, die «Propaganda der Tat» unmittelbar umzusetzen. Verstärkt wurde sie von einer mobilen sozialen «Randgruppe», die genügend Wut im Bauch, kriminelle Energie und nichts zu verlieren hatte. Minutiös verfolgt Winkler den «existenzialistischen Sprung» der ersten RAF-Generation in den Untergrund, der im «toten Trakt» von Stammheim endet: von der Befreiung von Andreas Baader über die ersten Bombenanschläge 1972, die Verhaftung der Kerngruppe und schliesslich die Hungerstreiks, die im Tod von Meins gipfeln und in einer nie wieder erlebten Solidarität der Linken.

Isolierter als der Staat erlaubt

Das Surplus des Buches liegt in der archäologischen Freilegung dieser ideologisch und organisatorisch verwickelten Vorgeschichte, die sich wie eine Mentalitätsgeschichte der deutschen Linken liest und nicht nur nach der Opfervergessenheit der RAF, sondern auch der damaligen Bewegung fragt. Doch Winkler ist - bei allen sarkastischen Distanzgesten, denen ein 1957 geborener Zaungast der Geschichte fähig ist - nicht gefeit gegen psychologisierende Lesart und mythische Überwältigung. Spätestens mit Stammheim hat auch bei ihm die «Psycho-Sekte» RAF, geboren aus der psychodelischen Verwirrung der Kommune 1, ihren Auftritt. Das Kapitel «Textkämpfe bis in den Tod» etwa kommt über die angebliche «Geiselsucht der Nonne» (Meinhof), die Analyse des «Psycho-Amoks» und historisch lächerliche Vergleiche («Moskauer Prozesse») nicht hinaus. Auch die wiederholt bemühte These vom «nachgeholten Vatermord» (an Hanns-Martin Schleyer und anderen) entkernt die RAF um ihr politisches Motiv und reduziert sie auf den Generationenkonflikt.

Winklers Rekonstruktion des Terrors 1975 bis 1977 macht noch einmal deutlich, wie isoliert die RAF in dieser Zeit bereits gewesen ist. Hätte der Staat den Stammheim-Prozess nicht zum Tribunal gemacht und die RAF-Gefangenen nicht in Sonderhaft genommen, wer weiss, ob es zur Rekrutierung der nächsten Generation überhaupt gekommen wäre. Dabei fällt Winklers Darstellung dessen, was 1977 in Stammheim passiert ist, hinter das zurück, was man seit Jahren schon weiss: dass die Gefangenen nämlich systematisch abgehört wurden und ihr Tod - wie schon der von Holger Meins - vom Staat billigend in Kauf genommen und auf die eine oder andere Weise sogar forciert wurde.

Nach dem 1977 verlorenen «letzten Nachhutgefecht» des Zweiten Weltkriegs formierte sich die RAF neu, ohne dass es ihr gelang, eine Anschlussstelle zu den sozialen Bewegungen der achtziger Jahre zu finden. Dabei sicherten sich Staatsschutz und Guerilla fast zwei Jahrzehnte gegenseitig die Existenz, und zu Recht fragt Winkler nach den geheimdienstlichen Operationen, die am Anfang und Ende der Stadtguerilla standen. Überhaupt gibt es im Hinblick auf die sogenannte dritte RAF-Generation viele offene Fragen, die auch der Autor nur als solche formulieren kann. Der «sinnlose», aber «konsequente Opfergang» der RAF fand am 20. April 1998 - pünktlich zu Hitlers Geburtstag - mit ihrer Auflösung sein Ende. Nicht jedoch das Medienspektakel um eine selbst ernannte «Armee», die zumindest eine Zeitlang das staatliche Gewaltmonopol infrage stellte und vorführte, dass der Staat seine Repräsentanten nicht zu schützen vermochte. Dieser Stachel steckt noch tief im Fleisch der deutschen Gesellschaft.

Willi Winkler: Die Geschichte der RAF. Rowohlt-Verlag. Berlin 2007. 528 Seiten. Fr. 40.40