Ökonomismus gegen Umwelt: Ein Opfer Al Gores geworden

Nr. 41 –

Wirtschaftsministerin Doris Leuthard propagiert die «klimaneutrale» Schweiz. Was daran falsch ist.

Vermutlich hat keine einzelne Person so viel dazu beigetragen, die internationale Klimapolitik zu verwässern, wie ausgerechnet der als Klimaheld gefeierte Al Gore. Als Vizepräsident der USA unternahm er alles, um die Verhandlungen auf einen Pfad zu bringen, der auch für den Kongress in Washington tragbar wäre. Trotz dieser Bemühungen ratifizierte der Kongress das Kioto-Protokoll nicht, sodass wir heute ein durch und durch US-amerikanisch geprägtes Klimaabkommen ohne die USA haben. Vor allem aber brachte Gore - gegen den anfänglichen Widerstand der EU und der meisten Entwicklungs- und Schwellenländer - eine ökonomistische Logik in die Verhandlungen ein, die heute selbst UmweltschützerInnen normal erscheint. Ausdruck davon sind die «flexiblen Mechanismen» des Kioto-Protokolls, also die Möglichkeit, Klimaschutz einzukaufen, statt das Klima selber zu schützen. In seinem Film «Die unbequeme Wahrheit» propagierte Gore schliesslich die bequeme Sicht, die Technologie werde es richten.

In beidem, Ökonomismus und Technikgläubigkeit, ist Bundesrätin Doris Leuthard ein Opfer Gores geworden. In den vergangenen Wochen haben Leuthard und Beamte ihres Departements in Interviews, Artikeln und Reden eine neue Ausrichtung der schweizerischen Klimapolitik vorgeschlagen. Herz davon sind die flexiblen Mechanismen: Statt Vorschriften für die eigene Wirtschaft zu erlassen, solle die Schweiz Klimaschutz im Ausland betreiben. Weil das billiger sei, könne man dabei gleich aufs Ganze gehen: hundert Prozent Kompensation der schweizerischen Emissionen für eine «klimaneutrale» Schweiz. In der Schweiz selber soll auf Technologie gesetzt werden.

Was ist falsch an dieser Idee einer klimaneutralen Schweiz? Fast alles.

Für den Anstieg der Emissionen in Zukunft werden vor allem die Schwellenländer verantwortlich sein, sagt Leuthard; deshalb sei es sinnvoll, dort zu handeln. Das stimmt zwar, aber dieser Anstieg findet immer noch auf vergleichsweise tiefem Pro-KopfNiveau statt. Die Schweiz verursacht pro Kopf und Jahr 12,5 Tonnen Treibhausgase, Indien rund 1 Tonne, China etwa 3. Es ist deshalb absurd, wenn die Schweiz ihre Emissionen in Indien «kompensieren» will. Wollten alle Industrieländer mit ihren Emissionen so umgehen, müssten die Entwicklungsländer ihre Emissionen weit unter null senken.

Der Kerngedanke der «flexiblen Mechanismen» ist der, dass zuerst dort gehandelt werden soll, wo es am wenigsten kostet, weil dies am effektivsten sei. Doch das ist unsinnig. Schuld an der Klimaerwärmung ist die Wirtschaft der Industriestaaten, die derzeit von den Schwellenländern nachgeahmt wird. Das Problem lässt sich nur lösen, wenn die auf fossile Energie gebaute Wirtschaft radikal verändert wird. Zuerst dort zu handeln, wo es wenig kostet, heisst an einer Struktur zu flicken, die überholt ist.

Ob Klimaschutz in der Schweiz tatsächlich mehr kostet als im Ausland, ist fraglich, denn was heisst «kosten»? Jede Ausgabe ist eines andern Einnahme. Zudem haben die Massnahmen positive Nebeneffekte - beispielsweise die Steigerung der Luft- und Lebensqualität, wenn der Autoverkehr reduziert würde.

Die ganze Kosten-Nutzen-Ideologie, die hinter Ideen wie dem Emissionshandel steht, ist auch aus Gründen der Gerechtigkeit abzulehnen. Es ist bezeichnend, dass Leuthard in ihrer Rede den Hurrikan Katrina (2005) erwähnte, der 150 Milliarden Dollar Kosten verursacht habe. Der Hurrikan Mitch über Lateinamerika (1998) tötete über fünfmal mehr Menschen als Katrina - aber er verursachte nur 7 Milliarden Dollar Schäden, ganz einfach, weil die betroffenen Menschen ärmer waren als in New Orleans. Diese verschobene Wahrnehmung ist jeder Kosten-Nutzen-Rechnung inhärent.

Eine «klimaneutrale» Schweiz ist Augenwischerei. Die heute angebotenen Projekte zur «Kompensation» von Treibhausgasen sind kaum bewertbar. Berücksichtigte man alle direkten und indirekten Auswirkungen dieser Projekte, dürfte die Mehrzahl davon nutzlos bis kontraproduktiv sein.

Wenn reiche Länder in armen Ländern Klimaschutz betreiben, bewirke das einen Know-how-Transfer, sagt Leuthard. Das ist eine arrogante Vorstellung - «einmal mehr», schrieb der südafrikanische Schriftsteller Zakes Mda in der «Neuen Zürcher Zeitung», «tritt der Westen als Retter auf.» Heutige Massnahmen zur Treibhausgas-«Kompensation» finden auf so bescheidenem technischem Niveau statt, dass die Entwicklungsländer das auch allein könnten. Wenn es aber um einen Strukturwandel ginge, ist fraglich, ob ausgerechnet die Industrieländer hier einen Know-how-Vorsprung haben sollten, die für die Misere verantwortlich sind.

«Die Schweiz», sagte Leuthard an der ETH, «muss im Rahmen ihrer Entwicklungszusammenarbeit die Entwicklungsländer in ihren Anstrengungen gegen den Klimawandel unterstützen.» Wieso im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit? Zum allergrössten Teil sind die Industrieländer für die Folgen des Klimawandels verantwortlich. Die Entwicklungsländer zu unterstützen, ist daher eine Pflicht und hat ausserhalb der Entwicklungshilfebudgets zu geschehen.

Als Strategie für die Schweiz setzt Leuthard auf Energieeffizienz durch neue Technologien. Selbst Umweltorganisationen erliegen dem Zauber dieser Idee. Sie verspricht, weitermachen zu können wie bisher, wenn wir es nur etwas effizienter tun. Effizienter werden muss aber nicht heissen, weniger Energie zu verbrauchen: Man kann auch effizient verschwenden. Effizienzsteigerung führt nicht automatisch zu Minderverbrauch; es gibt viele Beispiele, wo das Gegenteil passierte. Es kommt darauf an, weniger fossile Energieträger zu verbrennen. Ob wir das dann effizient oder ineffizient tun, ist keine Frage der Ökologie, sondern eine der Ökonomie: Effizienzsteigerung ist keine Umweltschutzmassnahme.

Wenn schon Effizienz, dann am sinnvollen Ort. Richtigerweise spricht Leuthard die Notwendigkeit an, im Verkehr zu handeln. Ihr Weg: technische Fortschritte mit Anreizen fördern - «intelligente Autos». Aber ineffizient ist unser Individualverkehr nicht in erster Linie wegen ineffizienter Autos. Sondern, weil ein bis zwei Tonnen schwere Gefährte mit wahnwitzigen PS-Leistungen im Durchschnitt 1,2 Personen pro Fahrt transportieren; weil sie dafür eine Verkehrsinfrastruktur brauchen, die enorme Flächen frisst; weil sie die Zersiedelung fördern und weil fast jeder, der Auto fährt, auch eines besitzt, sodass diese Fahrzeuge während 23 von 24 Stunden herumstehen. Will man die Effizienz dieses Systems steigern, ist es lächerlich, zuerst bei der Motorentechnik anzusetzen.

Ach ja, noch etwas teilt Doris Leuthard mit Al Gore: Vermutlich meint sie es ja gut.