Finanzplatz Schweiz: Der geheime arme Mittelstand

Nr. 47 –

Vor dreissig Jahren wollte die SP die Macht der Banken beschränken. Heute hingegen schart die SVP mit dem Versprechen auf Steuersenkungen und einem neuen Finanzplatzpatriotismus den Mittelstand hinter sich. Was hat sich da geändert?

Vor den jüngsten Parlamentswahlen hat die Credit Suisse Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vorgestellt, die für den Nationalrat kandidieren. Von fünfzehn KandidatInnen bekennen sich vier zur FDP, aber - vor zehn Jahren noch unvorstellbar - sechs zur SVP und von denen wiederum fünf zur Jungen SVP. Ein Jungkandidat aus dem Kanton Thurgau präsentiert sich mit der Frage, ob man gerne Steuern zahle. Wer mit Nein antworte, sei bei der SVP an der richtigen Adresse. Wie kann ein Zwanzigjähriger, der gerade das KV abgeschlossen und seinen ersten Job angetreten hat, die Steuerminimierung als zentrales Postulat vertreten?

«Besonders gemolken»

Seit zwanzig Jahren propagieren bürgerliche Kreise den Steuerabbau und diffamieren Steuern als Zwangsabgabe. Eine Untersuchung des Unternehmensverbandes Economiesuisse mit dem Titel «Wer finanziert den Staat in der Schweiz?» versucht in krasser Weise, die Wirklichkeit der Ideologie anzupassen. Trotz aller rechnerischer Tricks (siehe WoZ 35/07) kann die Studie ihre These von der Ausbeutung der Reichen durch die Armen allerdings nicht recht belegen. Ja ein Resultat ist geradezu vernichtend. Der angeblich so gebeutelte Mittelstand profitiert vom Schweizer Steuersystem: Diejenigen 60 Prozent der SteuerzahlerInnen, die gemäss Economiesuisse zu den Mittelschichten gehören, zahlen nur 31 Prozent der Steuern. Dabei hat Bundesrat Christoph Blocher das ideologische Konstrukt vom armen Mittelstand vor kurzem noch am Wirtschaftsforum der Sarganserländischen Industrie- und Gewerbeausstellung in Mels bekräftigt: «Die KMU bilden den heimischen Mittelstand und sind also auch jene Gruppe, die das Steuersubstrat wesentlich erbringt. Oder anders gesagt: Es sind gerade die Leistungsträger aus dem Mittelstand, die vom Staat besonders gemolken werden.»

Tatsächlich ist der Mittelstand ein zentraler Bezugspunkt der bürgerlichen Propaganda, vor allem jener der SVP. In einem Aufsatz über «Tradition und Modernität in der SVP» hat der Historiker Hans Ulrich Jost geschrieben, eine «diffuse Mittelstandsideologie» habe sich «als ideales Vehikel» erwiesen, «um populäre Ressentiments, bürgerliche Moral und 'gesundes Volksempfinden' anzusprechen». Das ist aber mehr ein Forschungsprogramm als eine Erklärung.

1942 veröffentlichte der Landesring-Nationalrat Hans Munz eine Broschüre mit dem Titel «Steuerhinterziehung, ein Massenphänomen in der Schweiz», in der er ausrechnete, dass selbst in einer so schwierigen Zeit wie in den Jahren des Zweiten Weltkrieges fast ein Drittel der Wehrsteuern hinterzogen werde. Bis heute wird der Steuerhinterziehung nur wenig wissenschaftliche und statistische Mühe gewidmet. Eine Untersuchung aus dem Jahre 2004 vergleicht die Einnahmen aus der nationalen volkswirtschaftlichen Rechnung mit den deklarierten Einnahmen in den Steuererklärungen und folgert, dass 1995 im kantonalen Durchschnitt 22,5 Prozent der eigentlich fälligen Steuern hinterzogen wurden. Neuere Berechnungen gibt es nicht.

Immerhin weist der St. Galler Ökonomieprofessor Gebhard Kirchgässner - ohne Zahlen zu nennen - darauf hin, dass sich die Steuermoral in der Schweiz seit Beginn der 1990er Jahre deutlich verschlechtert habe und die Schweiz mittlerweile unter den OECD-Staaten im hinteren Drittel liege. Als einen der Gründe nennt er die Debatten ums Bankgeheimnis, die nicht gerade vorbildhaft für die Stärkung der Steuermoral seien.

Ja das Bankgeheimnis. Entgegen gern kolportierten Mythen wurde es 1934 nicht zum Schutz deutscher KundInnen vor Nazispionen im Bankengesetz verankert. Es wurde vielmehr eingeführt nach einer Krise der damaligen Schweizer Volksbank und nachdem die Basler Handelsbank bei der Mithilfe zur Hinterziehung französischer Steuergelder ertappt worden war. Dabei entstand ein gut eidgenössischer Kompromiss: eine moderate Regulierung des Bankensektors im Austausch für das Bankgeheimnis.

Die Bankeninitiative von 1977

Jahrzehnte später versuchte die SP, die Banken schärfer in die Pflicht zu nehmen. Im November 1977 legte eine Arbeitsgruppe dem SP-Parteivorstand ihren Bericht zur Reform des Bankenwesens und des Finanzplatzes Schweiz vor. Der Bericht hatte vier Schwerpunkte: Bankgeheimnis; Entflechtung zwischen Banken und der übrigen Wirtschaft; Sparerschutz; Eingriffsbefugnisse des Bundes. Ein SP-Parteitag beschloss im Mai 1978 die auf die drei ersten Punkte beschränkte «Bankeninitiative», die im Herbst lanciert wurde. Sie sah eine Einschränkung des Bankgeheimnisses sowie die Unterstützung ausländischer Verfahren bei Steuerhinterziehung vor und forderte die Offenlegungspflicht bei Industriebeteiligungen von Banken. Die Unterschriften waren schnell gesammelt.

Die Voraussetzungen waren damals günstig. 1976 hatte Jean Ziegler die fulminante Anklageschrift «Eine Schweiz - über jeden Verdacht erhaben» vorgelegt und einigen Staub aufgewirbelt. Wie zur Bestätigung seiner Thesen über das Fluchtkapital wurden am 24. April 1977 Direktor und Vizedirektor der Filiale der Schweizerischen Kreditanstalt (SKA, heute Credit Suisse) in Chiasso wegen ungetreuer Geschäftsführung verhaftet. Fünfzehn Jahre lang hatten sie Fluchtgelder aus Italien mit einer SKA-Garantie in Liechtenstein angelegt. Der Zerfall der Lire hatte aber immer grössere Stützungsmassnahmen verlangt, bis ein schwarzes Loch von 1,3 Milliarden Franken sichtbar wurde. Rudolf Strahm, damals Sekretär der Erklärung von Bern, griff den Skandal auf, organisierte eine Bankentagung und eine hochkarätige Arbeitsgruppe, die die SP zur Bankeninitiative zu bewegen vermochte. Doch als der Abstimmungskampf 1984 begann, musste Strahm, mittlerweile SP-Zentralsekretär, erkennen, dass der Elan der Aufbruchsjahre verpufft war und man im heftigen Gegenwind stand. Die mit massiven Finanzmitteln bekämpfte Initiative wurde mit 73 Prozent Nein-Stimmen verworfen.

Immerhin liess eine vertiefende Meinungsumfrage nach der Abstimmung einen Hoffnungsschimmer aufblitzen: Trotz des klaren Nein-Resultats stand eine Mehrheit der Stimmberechtigten den Anliegen der Initiative positiv gegenüber. Aber letztlich überwogen die Negativschlagzeilen von drohenden Arbeitsplatzverlusten und dem allmächtigen Steuervogt.

Reale und symbolische Bedeutung

Um anhand der Bankeninitiative die verheerenden Auswirkungen des Finanzplatzes Schweiz auf die Dritte Welt zu thematisieren, hatten 1978 verschiedene entwicklungspolitische Organisationen die Aktion Finanzplatz Schweiz gegründet. Ein erstes Mittel war der «Flucht-Geld-Kurier», der im Januar 1979 in einer Auflage von 120 000 Exemplaren verteilt wurde. Solche Aufklärungsarbeit betreibt die Aktion Finanzplatz bis heute; und auch die Erklärung von Bern erinnert immer wieder an die Folgen der Kapitalflucht für die Dritte Welt, gerade eben mit der Zeitungsbeilage «Crash. Kapital braucht Kontrolle» (sie lag der WOZ Nr. 46 bei).

Nach Finanzskandalen um Staatschefs wie Joseph-Désiré Mobutu (Zaire) und Sani Abacha (Nigeria), nach den Banken-Engagements im rassistischen Südafrika, nach dem Skandal um die nachrichtenlosen - vorwiegend jüdischen - Konten aus dem Zweiten Weltkrieg, nach etlichem Druck aus den USA sowie aus der EU hat die Schweiz die Massnahmen gegen Geldwäscherei und Kapitalflucht verschärft und damit einige der Anliegen der Bankeninitiative stillschweigend erfüllt. Bestehen bleibt der stossende Unterschied zwischen Steuerbetrug und nur als geringes Vergehen geahndeter Steuerhinterziehung, womit weiterhin illegitime Milliardenbeträge aus dem Ausland auf Schweizer Banken strömen. Obwohl das reale Bankgeheimnis längst ausgehöhlt war, wurde es ab Mitte der neunziger Jahre als Symbol für einen neuen Finanzpatriotismus eingesetzt.

Dabei verweist das Bankgeheimnis immer auf das in ihm Verborgene: nicht nur die Kapitalflucht aus dem Ausland, sondern auch die Steuerhinterziehung im Inland. 1942, zu einem Zeitpunkt, als die politische Freiheit der Schweiz bedroht war, stellte Hans Munz die Frage: «Steuerdefraudation, ein Freiheitsrecht der Schweizer?» Anscheinend wird die Frage mittlerweile mit Ja beantwortet. Der internationale und der interkantonale Steuerwettbewerb machen Hehlerdienste zur Attraktion, gerade für den Mittelstand.

Der neue Mittelstand

Der Mittelstandsbegriff mag diffus sein und von der SVP bewusst diffus eingesetzt werden. Dennoch bezeichnet er eine soziale Realität. Für die VertreterInnen der neuen mittelständischen Schichten scheinen drei Aspekte bedeutsam. Erstens stammen sie zunehmend aus den Vorstädten. Den jüngsten Wahlerfolg errang die SVP im Agglomerationsgürtel von Rorschach bis Solothurn. Im Zürcher Unterland hat die SVP am stärksten in Gemeinden wie Opfikon-Glattbrugg, Kloten, Niederglatt oder Regensdorf zugelegt - «Nicht-Orte», wie sie der Soziologe Lukas Zollinger in einer Studie formuliert hat, nicht mehr Landgemeinde und noch nicht Stadt, mit zerklüfteten sozialen Beziehungen.

Zweitens sind darunter viele untere und mittlere Angestellte in den neuen Dienstleistungsunternehmen.Diese sind zum Teil direkt in den Finanzplatz eingebunden, häufiger arbeiten sie ihm zu, etwa als InformatikerInnen oder in wichtigen Infrastrukturunternehmen. Sie haben, drittens, die neoliberalen Erfolgs- und Aufstiegsversprechen täglich vor Augen. «Luxus!» und «Kaufrausch!» schreien ihnen die neusten Medienbeilagen entgegen. Der Preisvergleich aufgrund von Aktionen und Sonderangeboten auch in der Grundversorgung - und aufgrund eigener Handelsgeschäfte im Internet - wird zur dominierenden Denk- und Bewegungsform. Wachsendes Preisbewusstsein geht mit sinkender Zahlungs- und Steuermoral einher. Die Zirkulationssphäre setzt sich über die Produktionssphäre. Gesellschaft schrumpft zur Warenwelt. Dem entspricht die Börse als Weltbild. Diese Schichten wählen die SVP nicht in erster Linie, weil sie gegen AusländerInnen sind, sondern weil sie weniger Steuern bezahlen wollen.

Die Zürcher Abstimmung

Der Mittelstand muss entlastet werden. Dies verlangen bürgerliche VertreterInnen mit einer Änderung des Zürcher Steuergesetzes, über die an diesem Wochenende abgestimmt wird. Die angestrebte Halbierung der Steuern auf Dividenden aus Unternehmensbeteiligungen von mindestens zehn Prozent verkaufen sie als Gesetz für «faire KMU-Steuern». Dabei vergiesst das Ja-Komitee Krokodilstränen über die finanziellen Beschränkungen von Familienunternehmen und versteigt sich zur Behauptung, «viele junge innovative Unternehmen finanzieren sich über die Ausgabe von Aktien». Den angeblichen Wachstumsschub durch diese Entlastung der Grossaktionäre bezweifelt sogar die NZZ, die deshalb ein Nein zur Vorlage empfiehlt. Die Zürcher Farce ist ein Vorspiel zur eidgenössischen Abstimmung vom kommenden Februar über die Unternehmenssteuerreform II, die ähnliche Ziele verfolgt.