Wie weiter nach der Wahl?: Die Linke und der Ruf nach dem Sheriff

Nr. 47 –

Daniel Jositsch fordert, dass auch unter Sechzehnjährige eingesperrt werden dürfen. Niklaus Oberholzer kritisiert, dass immer mehr gesellschaftliche Probleme über das Strafrecht gelöst werden sollen. Die beiden Rechtsexperten und SP-Mitglieder über das Erbe von 1968, die aktuelle Debatte zur Jugendkriminalität – und das Verhältnis ihrer Partei zum Strafrecht.

WOZ: «Ich kann Menschen nicht ertragen, die gerne Macht ausüben, und das ist wahrscheinlich der Grund, dass ich das Rechtsstudium wählte», schrieb einst der Zürcher Strafrechtsprofessor Peter Noll. Daniel Jositsch, warum haben Sie Recht studiert?

Daniel Jositsch: Ich habe mich früh entschieden, Jurist zu werden, weil mich die Frage der Gerechtigkeit beschäftigte. Die Position des Anwalts, der sich für jemanden einsetzt, für den sich sonst niemand mehr einsetzt, faszinierte mich auch.

Niklaus Oberholzer: Bei mir war es prosaischer. Nach der Matura wollte ich Germanistik oder Geschichte studieren, hatte dann aber das Gefühl, ein Dasein als Lehrer bis zur Pensionierung sei keine Perspektive. Gleichzeitig liess mir das Jusstudium beruflich viele Möglichkeiten offen. Das Strafrecht hat mich zwar während des Studiums am meisten interessiert, doch war es letztlich zufällig, dass ich Untersuchungsrichter wurde. Es wurde gerade eine Stelle frei, und ich brauchte einen Job.

WOZ: Daniel Jositsch, Sie haben kürzlich in einem Interview gesagt, man müsse endlich «von gewissen verstaubten Achtundsechzigerpositionen» wegkommen. Noll lehrte an derselben Uni wie Sie und war ein Repräsentant der Achtundsechziger. Einer von Nolls zentralen Sätzen lautete: «Recht ist Kritik an der Macht.» Finden Sie das verstaubt?

Jositsch: Verstaubt in dem Sinn, dass jede politische Äusserung auf dem Hintergrund ihrer Zeit gemacht wird. Jede Zeit hat ihre Notwendigkeiten und damit auch ihre politischen Aktivitäten, allerdings bleibt die Gesellschaft nicht stehen. Insofern verstehe ich «verstaubt» als: War früher berechtigt, kann heute nicht mehr in der gleichen Form stehen bleiben.

WOZ: Halten Sie die Achtundsechzigerpositionen für verstaubt, Niklaus Oberholzer?

Oberholzer: Die Frage ist komplexer. Bei einigen Positionen habe auch ich den Eindruck, dass man in der SP während Jahren einiges verschlafen hat.

WOZ: Zum Beispiel?

Oberholzer: Unser Verhältnis respektive das Verhältnis der Partei zum Strafrecht. Diese Grundsatzdiskussion wurde nie geführt.

Jositsch: Genau.

Oberholzer: Die einen finden reflexartig: Das Strafrecht bringt nichts, und die anderen haben sich das Wohl der Welt vom Strafrecht versprochen. Diese Diskussionen gab es innerhalb der Frauenbewegung, dann kamen die Verkehrsdelikte hinzu, später noch Geldwäscherei oder Korruption. Innerhalb der SP herrschte das Gefühl: Wir müssen nur die richtigen Strafbestimmungen machen, dann wird die Welt gut. Man hat versäumt, sich damit auseinanderzusetzen, ob das Strafrecht überhaupt das richtige Mittel dafür ist. Deshalb bin ich froh, dass Sie, Herr Jositsch, nun mit gewissen Positionen kommen, die im ersten Moment erschrecken. Ich hoffe, das löst innerhalb der linken Kreise eine Diskussion aus.

WOZ: Und was sagen Sie zu Noll?

Oberholzer: Egal wie alt sein Zitat ist, es enthält eine klare Aussage zur Funktion des Rechtssystems in einer Gesellschaft. Damit ist Nolls Zitat politisch aktueller denn je. Wenn ich Diskussionen sehe – die zum Beispiel Justizminister Blocher führt – müssen wir froh sein, dass wir keine Rechtsordnung haben, bei der nur die tagespolitische Beliebigkeit eine Rolle spielt. Das Recht hatte immer auch die Funktion, die Armen und die Schwachen zu schützen.

Jositsch: Absolut richtig.

Oberholzer: Es ging um einen Kampf gegen die uneingeschränkte Macht der Justiz, aber auch gegen die wirtschaftliche Macht, und das ist in der heutigen Zeit wichtiger als je zuvor.

Jositsch: Die Achtundsechziger lehnten sich gegen einen Staat auf, der repressiv war, der unterdrückte. Das war eine Befreiung. Insofern finde ich Nolls Zitat absolut in Ordnung, doch stehen wir heute vor anderen Herausforderungen.

Oberholzer: Für mich ist nicht greifbar, was Sie unter dem Begriff «Achtundsechzig» verstehen.

Jositsch: Da könnten wir zwei Stunden darüber diskutieren. Die Achtundsechzigerbewegung hat sich ja nicht nur mit dem Strafrecht beschäftigt. Aber sie hatte gegenüber der Repression grundsätzlich eine kritische Haltung, sie wollte die Polizei bremsen, und Strafe war etwas, das nicht stattfinden sollte.

Oberholzer: Aber es ging letztlich um zentrale Fragen wie: Was bewirkt Strafrecht? Welche Funktion hat Strafrecht? Man debattierte darüber, dass das Strafrecht das schärfste und repressivste Mittel sei, das dem Staat zur Verfügung stehe. Man wollte dieses Instrument nicht einfach stumpf werden lassen, indem es für jede Beliebigkeit eingesetzt wird. Diese Position ist doch heute noch relevant.

Jositsch: Das hat aber nicht viel mit Achtundsechzig zu tun.

Oberholzer: Doch, es ging damals immer auch um die Lösung gesellschaftlicher Probleme. Ich wehre mich dagegen, dass Achtundsechzig nur auf ein paar Strassenkrawalle reduziert wird.

Jositsch: Ich bin ja kein Kritiker der Achtundsechziger. Das darf man mir jetzt nicht unterschieben. Das Einzige, was ich sagte: Einige der Thesen, welche Achtundsechzigerexponenten vertreten haben, sind nicht mehr zeitgemäss.

Oberholzer: Ja, zum Teil hat die Realität sie eingeholt.

Jositsch: Richtig. Die Realität verlangt heute andere oder ergänzende Lösungen.

WOZ: Niklaus Oberholzer hat die Frage aufgeworfen: Welche Rolle hat das Strafrecht? Sie, Daniel Jositsch, haben einmal geschrieben: «Beim Strafrecht steht der Opferschutz im Vordergrund.» Kann das Strafrecht tatsächlich die Leute davor bewahren, Opfer zu werden?

Jositsch: Das muss das Ziel sein.

WOZ: Niemand kann einer Frau garantieren, dass sie nicht – von jemandem, der noch nie straffällig wurde – vergewaltigt wird. Müsste man sonst nicht alle Männer einsperren?

Jositsch: Haben Sie schon einmal in einem Staat gelebt, in dem die Justiz nicht funktioniert?

WOZ: Ja, aber darum geht es nicht.

Jositsch: Sicher kann das Strafrecht nicht jede Tat verhindern. Aber das Ziel des Strafrechts ist für mich der Schutz des Opfers. Es gibt verschiedene präventive Wirkungen: Erstens sollten künftige Opfer vor einem Täter, der schon eine Tat begangen hat, geschützt werden. Zweitens sollte das Strafrecht, im Sinn einer generalpräventiven Wirkung, verhindern, dass potenzielle Täter überhaupt zu Tätern werden. Die Idealform wäre eine Gesellschaft, in der das Strafrecht nicht mehr zum Einsatz kommt. Das kann man nicht erreichen, aber das wäre das Idealziel.

Oberholzer: Sie haben vorhin den Begriff «Prävention» gebraucht. Ich habe in der heutigen Strafverfolgung zunehmend den Eindruck, dass die repressive Funktion des Strafrechts zurückgedrängt wurde, gleichzeitig ist es als allmächtiges Präventionsinstrument neu auf den Markt gekommen. Früher ging es zum Beispiel um die Fichen, der Staat liess aus innenpolitischen Gründen Leute bespitzeln. Heute werden ähnliche Methoden im Bereich Migration eingesetzt, zum Beispiel mit dem Schengener Abkommen oder Europol. Das Feinbild hat sich geändert, nicht aber die Methode.

Jositsch: Das Strafrecht enthält natürlich einen repressiven und damit einen ausgleichenden Teil: Jedes Kind, das eine Scheibe einschlägt, erhält eine Strafe. Das Ziel kann ja nur sein, dass eine Tat nicht wiederholt wird.

WOZ: Kann das Strafrecht Menschen davor abschrecken, eine Tat zu begehen? Kann es sie bessern?

Jositsch: Das weiss ich nicht. Es gibt Täter, die lassen sich präventiv davon abhalten, da gehören wir zum Beispiel dazu. Ich halte mich auch an die Gesetze, weil ich weiss, was passiert, wenn ich es nicht tue. Ich würde vermutlich nicht bei Rot den Fussgängerstreifen überqueren, wenn ich 250 Franken bezahlen muss, falls ich erwischt werde. Oder wenn die Wahrscheinlichkeit sehr hoch wäre, dass ich erwischt werde. Zudem gibt es viele Menschen, die spüren eine gewisse Befriedigung, wenn sie wissen, dass das Strafsystem funktioniert und diejenigen bestraft werden, die gegen das Gesetz verstossen. Diese positive Generalprävention gibt uns Selbstsicherheit. Dann gibt es den spezialpräventiven Aspekt – die positive Einwirkung auf den Täter –, der zugegeben häufig ein wenig idealistisch ist. Doch im Jugendstrafrecht hat er eine grosse Wirkung, beim Berufskriminellen wird es schon schwieriger.

Oberholzer: Funktioniert diese Präventionslogik wirklich so gut? Bei uns hier drin vermutlich schon. Auch beim Autofahren: Wenn die Bussen etwas höher sind, gibt es vermutlich weniger Geschwindigkeitsüberschreitungen, vor allem wenn die Kontrolldichte höher ist. Doch gerade bei den schwerwiegenden Straftaten, die die Öffentlichkeit bewegen, bezweifle ich sehr, dass die Abschreckung funktioniert. Mit hohen Strafandrohungen lässt sich ein psychisch kranker Gewaltverbrecher kaum von einer Tat abhalten. Es existieren genügend Studien aus den USA, die belegen, dass die Todesstrafe nicht abschreckend wirkt.

Jositsch: Der psychisch abnorme Gewalttäter lässt sich selbstverständlich nicht abhalten, ein Delikt zu verüben. Allenfalls kann man mit dem Strafrecht verhindern, dass er ein zweites verübt. Natürlich gebe ich Ihnen Recht, man kann nicht verhindern, dass irgendwo einmal eine Tat passiert. Doch zum Glück gibt es nicht so viele Sexual- und Gewalttäter.

Oberholzer: Aber sie sind publikumswirksam.

Jositsch: Raub, Vergewaltigung, sexuelle Nötigung sind Delikte, die nicht ganz ohne sind und nicht nur von psychisch abnormen Sexual- und Gewalttätern verübt werden.

Oberholzer: Raub ist ein ideales Beispiel: In den achtziger Jahren hatten wir zuhauf Raubüberfälle von Drogensüchtigen. Heute spricht niemand mehr davon, weil diese Delikte massiv zurückgegangen sind – aber nicht wegen schärferer Strafen, sondern weil man die Problematik angegangen ist, mit Methadonprogrammen, mit Heroinabgabe.

Jositsch: Natürlich bin auch ich der Meinung, das Strafrecht sollte das letzte Mittel sein. Es sollte nur eingesetzt werden, wenn nichts anderes mehr greift. In unserem Zwölfpunkteprogramm zur Jugendkriminalität haben wir ja auch ausgeführt, dass es neben dem Strafrecht auch die schulischen und die gesellschaftlichen Aspekte gibt.

Oberholzer: In diesem Punkt finde ich Ihren Ansatz eben politisch gefährlich. Es fehlt die aufgeklärte Diskussion, man müsste doch ehrlich sagen: Das Strafrecht kann nicht alles – wir können Vergewaltigungen nicht auf null reduzieren. Wenn ein aktueller Fall passiert, der die Gemüter erregt, gibt es zwei Möglichkeiten: Man dreht weiter am Schräubchen und fordert neue strafrechtliche Sanktionen, und man gibt vor, mit den Mitteln des Strafrechts liesse sich eine risikolose Gesellschaft schaffen. Oder man nimmt eine aufklärerische Grundhaltung ein und sagt: Wir müssen in unserer Gesellschaft einmal diskutieren, was für eine Art von Sicherheit wir wollen. Niemand kann die Garantie übernehmen, dass keine Vergewaltigungen mehr stattfinden oder Kinder entführt werden.

Jositsch: Das ist eine akademische Diskussion. Ich bringe immer das Beispiel mit dem Flugzeug. Wenn ein Flugzeug abstürzt, können Sie den Betroffenen nicht sagen: Schauen Sie wie viele Flugzeuge sicher starten und landen. Der Rest der Bevölkerung will ebenfalls wissen, warum dieses eine Flugzeug abgestürzt ist, weil alle mal fliegen. Da kann man nicht dar-über reden, wie sicher das Fliegen statistisch gesehen ist. Genauso sicher wollen sich die Leute fühlen, wenn sie nachts durch die Strassen gehen, sie wollen keinem gefährlichen Gewalttäter begegnen.

Oberholzer: Diese Sicherheit gibt es nicht.

Jositsch: Das ist keine politische Äusserung.

Oberholzer: Doch, für mich ist das eine sehr politische Äusserung! Es ist Aufgabe der Linken, Aufklärung zu betreiben und zu sagen: Es gibt weder im technischen noch im menschlichen Bereich hundertprozentige Sicherheit. Oder dann wählt man den anderen Weg und gaukelt vor, mit neuen, repressiven Mitteln kämen wir dieser imaginären Sicherheit näher. Das Flugzeugbeispiel zeigt schön, was ich meine: Die Sicherheit im Luftverkehr wurde durch Untersuchungen gefördert, bei denen es nicht um die strafrechtliche Verurteilung der Schuldigen ging. Vielmehr versucht man, den Fehler zu finden, um danach das System zu verbessern, damit möglichst keine ähnlichen Unfälle passieren.

WOZ: In Ihrem Zwölfpunkteprogramm verlangen Sie, Daniel Jositsch, zusammen mit Chantal Galladé, dass man auch unter Sechzehnjährige inhaftieren kann. Erhöht das die Sicherheit?

Jositsch: Heute gibt es eine fixe gesetzliche Grenze, die bei sechzehn Jahren liegt und die wir nicht für sinnvoll halten. Der Richter soll die Möglichkeit haben, einen optimalen Mix zwischen Strafen und Massnahmen festzusetzen. Heute kann ein Richter einem Vierzehnjährigen – egal, welches Delikt er verübt hat – nur einen Verweis erteilen oder ein paar Arbeitsnachmittage auferlegen. Wenn ein Jugendlicher zum zehnten Mal vor dem Richter steht, beeindruckt den ein Verweis nicht. Natürlich steht immer die Massnahme im Vordergrund, und das Ziel muss sein, straffällige Jugendliche auf einen neuen Weg zu bringen. Zudem müssen Sie auch auf das gesellschaftliche Rechtsempfinden Rücksicht nehmen. Wenn die Leute das Recht nicht mehr verstehen, ändern sie das Gesetz – wie zum Beispiel bei der Verwahrungsinitiative geschehen.

Oberholzer: Die Justiz darf sich nicht zu stark vom allgemeinen Gerechtigkeitsempfinden entfernen, sonst droht Selbstjustiz. Doch nach welchen Kriterien entsteht das Gerechtigkeitsgefühl? Gerechtigkeit steckt ja nicht in den Genen, dieses Gefühl wird durch die Medien und das Umfeld produziert. Wir Exponenten von Justiz und Wissenschaft sind da stark gefordert, denn sonst kann es gefährlich werden. Wenn Sie morgen eine Abstimmung über die Einführung der Todesstrafe durchführen würden, wäre vielleicht eine Mehrheit dafür. Deshalb darf sich das Strafrecht nicht einfach nach dem allgemeinen Gerechtigkeitsgefühl richten.

WOZ: Was heisst das in Bezug auf das Jugendstrafrecht?

Oberholzer: Das existierende Recht wird nicht als gerecht empfunden, weil wir nicht aufklären und erklären, was eine jugendstrafrechtliche Massnahme bedeutet. Ich hatte verschiedentlich mit solchen Jugendlichen zu tun, die wären zum Teil lieber ein Jahr lang in ein Gefängnis gegangen, als eine Massnahme über sich ergehen zu lassen ...

Jositsch: Selbstverständlich.

Oberholzer: ... und vier Jahre lang in einer jugendstrafrechtlichen Sanktion zu sein, mit relativ ähnlichem Freiheitsentzug wie im Gefängnis, aber mit der Verpflichtung verknüpft, sich intensiv mit sich und der Tat auseinanderzusetzen Statt Knast für Jugendliche zu fordern, könnte man doch auch sagen: Hört auf mit diesen Diskussionen! Schaut mal, wie es in der Realität aussieht, was es bedeutet, wenn ein Jugendlicher seine Freiheit nicht mehr hat und in einem Programm steckt, das kein Schleck ist.

Jositsch: Absolut richtig. Aber die Frage ist doch, was Sie mit den Jugendlichen machen, bei denen eine Massnahme nicht greift respektive die sich weigern, im Rahmen der Massnahme mitzuarbeiten. Genau in diesen Fällen brauchen Sie die Möglichkeit der Strafe. Denn sonst müssen Sie den Jugendlichen einfach aus der Massnahme entlassen. Das ist das, was heute eben teilweise geschieht. Und das ist der Grund, warum wir die Flexibilität gefordert haben.

WOZ: Daniel Jositsch, warum brachten Sie Ihr Papier zur Jugendkriminalität ausgerechnet in diesem Sommer?

Jositsch: Der Zeitpunkt war klar gewählt: Nämlich der Wahlkampf 2007. Ich wollte nicht einfach mit einem Plakat gewählt werden, auf dem steht «Mehr Sonnenschein in Bern, Jositsch in den Nationalrat». Mit dem Zwölfpunkteplan haben wir uns positioniert; damit sind wir auch Risiken eingegangen. Doch das ist für mich Wahlkampf, nämlich klar zu zeigen, was ich erreichen will, wenn ich gewählt werde.

WOZ: Niklaus Oberholzer, Sie haben kürzlich in einem Referat beklagt, das Strafrecht verkomme zum Spielfeld im politischen Alltagsgeschäft. Was genau meinen Sie damit?

Oberholzer: Es hat sicher mit den Medien zu tun, die tragische Einzelfälle intensiv beackern. Jedem aufwühlenden Delikt folgt der Schrei nach dem Strafrecht – aber damit lassen sich gesellschaftspolitische Probleme nicht lösen.

Jositsch: Da gebe ich Ihnen recht.

Oberholzer: Die röhrenblickartigen Reaktionen in der Politik finde ich sehr bedenklich. Die SVP entdeckt Sozialhilfebetrüger und will mit strafrechtlichen Methoden auf sie losgehen. Die SP findet Steuerhinterzieher und will das Problem mit strafrechtlichen Methoden lösen. Komplexe Probleme werden auf einen einfachen, anschaulichen Sachverhalt reduziert.

Jositsch: Das ist richtig. Nur wenn man ein Thema anspricht, das in den Medien nicht präsent ist, reagiert niemand.

WOZ: Doch verstärkt man nicht gerade die SVP-Logik, wenn diese ein Thema wie die Jugendkriminalität hochspielt und danach SP-Leute Knast für unter Sechzehnjährige fordern?

Jositsch: Frau Galladé und ich haben bei den Wahlen nicht schlecht abgeschnitten, wir wurden vor allem mit sozialdemokratischen Stimmen gewählt – also kann unsere Forderung nicht so unsozialdemokratisch gewesen sein.

WOZ: Die Frage war: Ist Ihr Programm nicht Teil der vorherrschenden Logik?

Jositsch: Nein. Die Politik muss sich doch mit den Fragen auseinandersetzen, die die Menschen beschäftigen. Jugendgewalt ist ein solches Thema. Der Unterschied zur SVP ist nicht, welche Fragen wir stellen, sondern welche Antworten wir geben.

WOZ: Also geht es nicht darum, die Logik der Zeit zu ändern, sondern sich ihr anzupassen.

Jositsch: Es gibt halt verschiedene Zeiten. Ich sage es immer so, Politik ist für mich wie ein Kleiderladen. Wenn die Politik darin besteht, ohne Schaufenster und Verkäuferin Kleider von Topqualität zu verkaufen, hat man langfristig ein Problem. Oder man betreibt Politik nur im Schaufenster, die Qualität der Kleider interessiert nicht. Das beschert langfristig auch keinen Erfolg. Doch genau das tut die SVP. Ich sage: Gute Politik ist, wenn man einen seriösen Laden mit qualitativ guter Ware hat, gute Verkäuferinnen und ein schönes Schaufenster, und dann müssen Sie noch zur richtigen Zeit die richtige Hose ins Schaufenster stellen. Sind die Leute mal im Laden, zeigen wir das gesamte Angebot.

WOZ: Dann sind Sie mit dem Thema Jugendgewalt gekommen, weil es gerade Saison hatte?

Jositsch: Nein, weil das Thema die Leute beschäftigt. Sicher hätten wir auch einen Zwölfpunkteplan zu «Mehr Krippen braucht das Land» machen können, das hätte aber aktuell wenig ausgelöst, obwohl das Thema sehr wichtig ist. Im Wahlkampf muss man den Leuten sagen: Ihr habt Probleme, das sind unsere Lösungen. Im Moment bereiten wir ein Papier zur öffentlichen Sicherheit vor, in dem auch die Ausländerkriminalität ein Punkt sein wird.

WOZ: Niklaus Oberholzer, Sie kritisieren die Gesetzesflut. Das Schweizerische Strafgesetzbuch (StGB) trat vor über 50 Jahren in Kraft. In den ersten 35 Jahren gab es nur zwei Änderungen. In den vergangen 16 Jahren kam es jedoch zu 42 Änderungen. Was ist schlecht daran?

Oberholzer: Bei Verwaltungsverordnungen, die zum Beispiel den Mobilfunk oder andere technische Bereiche regeln, mag das in Ordnung sein. Aber ich gehe davon aus, dass das Strafgesetz ein zentrales Gesetz sein sollte. Wenn man es revidiert, sollte man das auch halbwegs seriös machen. Ändert man es im Halbjahresrhythmus, ist das für mich ein Zeichen, dass man nicht seriös an die Arbeit geht. Ich denke, dies hat schon auch mit der Profilierungssucht einiger Politiker zu tun.

Jositsch: Die Gesetze werden nun mal von Politikern gemacht. Die funktionieren medial, nicht nur, aber auch. Entsprechend besteht die Gefahr, dass die Politik auf aktuelle Befindlichkeiten stark reagiert.

Oberholzer: Ohne mediale Präsenz kein Politiker. Mit Ihrem Uni-Job allein wären Sie weder im Kantons- noch im Nationalrat.

Jositsch: Klar, die Leute müssen einen kennen. Aber das allein garantiert keine Wahl. Es kommt auch auf den Inhalt an, für den man steht.

WOZ: Aber ist es nicht zutreffend, dass sich PolitikerInnen profilieren können, indem sie schärfere Strafen fordern?

Oberholzer: Bis in die siebziger, achtziger Jahre ist niemand auf die Idee gekommen, gesellschaftliche Probleme mit einer Strafbestimmung in den Griff zu bekommen. Das scheint ein neues Phänomen. Woher kommt dieser Reflex? Das ist mir bis heute nicht klar.

Jositsch: Das Gesetz muss auf die gesellschaftliche Entwicklung reagieren. Es gibt neue Delikte, zum Beispiel Scheck- und Kreditkartenbetrug, da brauchte es neue Strafbestimmungen, oder im Bereich der Computerkriminalität.

Oberholzer: Ihre These ist also, und dafür habe ich durchaus Verständnis: Je schneller sich unsere Gesellschaft entwickelt, desto schneller muss auch die Rechtsordnung nachvollziehen.

Jositsch: Es bleibt nichts anderes übrig.

WOZ: Niklaus Oberholzer hat vorhin die Todesstrafe erwähnt. Wann muss ein Jurist sagen: Halt – jetzt geht der Zeitgeist zu weit?

Jositsch: Der Jurist muss sich dieser Frage nicht stellen.

Oberholzer: Doch, doch. Das glaube ich schon.

Jositsch: Nein, nicht die Juristen machen die Gesetze, das Parlament macht sie. Und das ist ja nicht unvernünftiger.

Oberholzer: Mit der Einführung der Todesstrafe wäre ich am nächsten Tag aus der Justiz draussen.

Jositsch: Die Frage stellt sich ja Gott sei Dank nicht.

DIE GESPRÄCHSPARTNER

Daniel Jositsch, 42, studierte an der Hochschule St.Gallen, war als Anwalt tätig und ist seit 2004 an der Universität Zürich Strafrechtsprofessor. Im Frühling 2007 wurde er als SP-Mitglied in den Zürcher Kantonsrat gewählt und im Oktober in den Nationalrat. Den «Zwölfpunkteplan zur Lösung von Jugendgewalt und Schulproblemen» finden Sie auf seiner Website: www.jositsch.ch

Niklaus Oberholzer, 54, studierte an der Universität Basel und war als Untersuchungsrichter und Anwalt tätig. 1990 wurde er von der Parlamentarischen Untersuchungskommission (PUK) zur Fichenaffäre als Experte beigezogen und war massgeblich an der Verfassung des PUK-Berichtes beteiligt. Seit 2000 präsidiert er die St. Galler Anklagekammer. Sein Referat «Von der Normeninflation im Strafrecht», gehalten an der Jubiläumstagung zum dreissigjährigen Bestehen der Fachgruppe Reform im Strafwesen der Caritas Schweiz, finden Sie auf www.paulus-akademie.ch, Link «Publikationen».

Nachtrag von 14. Juni 2012 : Bundesrichter Oberholzer

Am Mittwoch hat das Parlament Niklaus Oberholzer (59) als Vertreter der SP zum Bundesrichter gewählt. Oberholzer ist zurzeit noch Präsident des St. Galler Kantonsgerichts, gehört zudem dem Aufsichtsgremium der Bundesanwaltschaft an und ist wohl einer der scharfsinnigsten JuristInnen. Vor einem Jahr kritisierte er in einem WOZ-Interview (Nr. 25/11 ), dass die Politik die Lösung von gesellschaftlichen Problemen zunehmend an die Justiz delegiere. Als Beispiel erwähnte er die Geldwäschereibestimmungen der neunziger Jahre: «Statt dass man zu einem gesellschaftlichen Konsens gelangt wäre, dass die Banken nur noch sauberes Geld annehmen, hat man neue Strafbestimmungen erlassen, die nicht tatsächlich wehtun. Ungeklärt blieb die Frage der Potentatengelder, aber auch der hinterzogenen Steuern im In- und Ausland (…). Gerade die jüngsten Erfahrungen zeigen, dass Potentaten aus Sicht der Politik offenbar erst dann zu Kriminellen werden, wenn sich das eigene Volk gegen sie erhebt. Vorher wird mit ihnen geschäftet, und nachher wird gegen sie Strafanzeige erhoben. Und nun soll die Bundesanwaltschaft richten, was die Politik zuvor versäumt hat?»

Legendär war auch das WOZ-Streitgespräch zwischen SP-Nationalrat Daniel Jositsch und Niklaus Oberholzer. Zum Thema «Todesstrafe» sagte Oberholzer, bei einer Abstimmung über die Todesstrafe wäre eine Mehrheit aufgrund des Zeitgeists vielleicht dafür: «Deshalb darf sich das Strafrecht nicht einfach nach dem allgemeinen Gerechtigkeitsgefühl richten.»

Die WOZ hakte nach und fragte: «Wann muss ein Jurist sagen: Halt – jetzt geht der Zeitgeist zu weit?» Jus-Professor Jositsch antwortete spontan: «Der Jurist muss sich dieser Frage nicht stellen.» Oberholzer antwortete bedächtig: «Doch, doch. Das glaube ich schon.» – «Nein, nicht die Juristen machen die Gesetze, das Parlament macht sie. Und das ist ja nicht unvernünftiger», entgegnete Jositsch. «Mit der Einführung der Todesstrafe wäre ich am nächsten Tag aus der Justiz draussen», stellte Oberholzer nur noch trocken fest.

Hoffen wir, dass Niklaus Oberholzer sich auch als Bundesrichter weiterhin deutlich zu politischen Fragen äussert, die sich nicht juristisch beantworten lassen.

Susan Boos