Bundesratswahlen: Ein Jungbrunnen für die SP

Nr. 49 –

Wer wie die SP einen Bundesrat Blocher nicht verhindern kann, muss die Konsequenzen ziehen und selber aus der Regierung austreten, sagt der Politologe Hanspeter Kriesi.

WOZ: In einer Woche finden die Bundesratswahlen statt. Rechnerisch ist es möglich, dass Christoph Blocher abgewählt wird. Was würde es bedeuten, wenn sich dann die SVP - wie angedroht - aus dem Bundesrat verabschiedete?

Hanspeter Kriesi: Blocher hat erst kürzlich wieder betont, dass die SVP dann systematisch Opposition betreiben werde.

Was hiesse das?

In der Schweiz ist es generell so, dass eine Opposition die Mittel der direkten Demokratie benutzt, um eine Regierungsvorlage zu Fall zu bringen. Die Frage ist, ob die SVP in der Opposition mehr Vorlagen zu Fall bringen könnte, als wenn sie in der Regierung ist. Die SVP verhält sich nämlich auch in der Regierung häufig wie eine Oppositionspartei.

Wäre die SVP auf eine Rolle in der Opposition vorbereitet?

Das glaube ich schon. Sie ist sehr gut organisiert und sehr schlagkräftig. Sie hat eine professionelle politische Kommunikationsstrategie. Sie macht auch dauernd Opposition. Allerdings ist sie in dieser Rolle nicht unbedingt mehrheitsfähig. Sie kommt nicht einmal auf ihrem ureigensten Terrain zu Erfolgen, wie die abgelehnte Asylinitiative zeigt. Erst mit einer Vorlage der Regierungsmehrheit hat die SVP ihre Forderungen im Bereich der Asylpolitik durchsetzen können.

Verkörpert Blocher die Partei so sehr, dass sie ihm in Nibelungentreue überallhin folgt?

Er verkörpert sie in einem sehr hohen Masse. Wir haben mehrere Wahlkämpfe der SVP analysiert und festgestellt, dass ihr Aufstieg sehr stark durch die Sympathie zur Person Blochers bestimmt war. Ich denke schon, dass sie ihre Drohung wahr machen würde.

Wären die anderen Parteien darauf vorbereitet, oder haben sie Angst?

Ich denke schon, dass sie Angst haben.

Muss die SP, die ja Blocher abwählen will, Angst haben?

Einer der Gründe, warum die SP Angst hat: Sie stellt damit implizit ihre eigene Regierungsbeteiligung infrage. Denn eine Alternative zu einer Mitte-links-Regierung wäre eine Mitte-rechts-Regierung. Die Kehrseite der Forderung nach einem Ausschluss von Blocher - und damit der SVP - wäre der eigene Austritt. Daran mag aber die SP gar nicht ernsthaft denken. Sie hat sich an die Regierungsbeteiligung auf allen Ebenen des politischen Systems gewöhnt.

In diesem Zusammenhang fand ich es nicht besonders konsequent, dass die SP im Wahlkampf nur gegen Blocher, aber nicht gegen die SVP angetreten ist. Die Grünen waren da viel konsequenter. Sie sagten, dass es keine grüne Regierungsbeteiligung geben werde, solange die SVP dabei ist.

Die SP ist wohl mehr, als sie sich selber eingestehen will, zu einer Verfechterin der Konkordanzregierung geworden?

So ist es. Wer dabei ist, hat Einfluss, Zugang zu Informationen, die sonst nicht erhältlich wären, und kann die Personalpolitik mitbestimmen. Der ehemalige Bundesrat Otto Stich - 1983 gegen den Willen der Partei gewählt - hat das hervorragend gemacht. Er hat seine Parteimitglieder an wichtige Positionen in seinem Departement gesetzt. Es steht also ziemlich viel auf dem Spiel, wenn man nicht mehr dabei ist.

Andererseits kann man in der Opposition Stimmen gewinnen. Man kann dann nicht mehr für die Regierungsentscheidungen verantwortlich gemacht werden, gleichzeitig aber die anderen auf ihren Fehlern behaften. Das wäre für die SP sicher ein Jungbrunnen.

Gilt dies auch für die SVP?

Mir scheint, die SVP habe weniger Angst vor dem Regierungsaustritt. In unseren Analysen der letzten Wahlen haben wir allerdings festgestellt, dass die SVP ihr Wähler- und Wählerinnenpotenzial stärker ausgeschöpft hat als die anderen Parteien. Sie hat jetzt noch einmal zugelegt - entgegen unseren Annahmen nicht nur in der Westschweiz, sondern auch in der katholischen Schweiz. Sie gewinnt weiter, aber weniger als früher. Ganz im Gegensatz zur SP und den Grünen, die ihr Potenzial bei weitem noch nicht ausgeschöpft haben. Für die SVP wäre deshalb die Opposition nicht im selben Masse wie für die Linke ein Jungbrunnen.

Wie würden der erfolggewohnte Politiker Blocher und seine erfolggewohnte Partei mit einer Niederlage bei den Bundesratswahlen umgehen?

Man darf nicht vergessen, dass Blocher und die SVP oft verlieren. Die Ständeratswahlen haben sie verloren, bei Regierungsratswahlen verlieren sie auch, bei Volksabstimmungen immer wieder. Sie schaffen es aber, ihre Niederlagen als Erfolge darzustellen - im Unterschied zu den anderen Parteien.

Würde die Gegenseite gelassen bleiben? Könnte sie die SVP in der Opposition isolieren?

Davon bin ich überzeugt. Aber ich bin nicht sicher, ob sie daran interessiert ist. Für die gemässigten bürgerlichen Parteien ist das Spiel mit unterschiedlichen Koalitionen - mit variabler Geometrie - gar nicht schlecht. Sie können sich die Partner aussuchen - je nachdem, ob sie eine bürgerliche Wirtschafts- und Finanzpolitik betreiben wollen oder eine soziale Familien- und Bildungspolitik. Die CVP kann fast immer mit der einen oder anderen Seite einen Kompromiss aushandeln. Das ist eine komfortable Situation. In einer Mitte-links-Koalition wäre die Linke stärker und könnte der CVP mehr Konzessionen abringen.

Schon in den achtziger Jahren haben Sie sich kritisch gegenüber der Konkordanz geäussert und bezweifelt, dass das System in der Lage sei, komplexe Themen anzugehen. Jahrzehnte später gibt es immer noch eine Konkordanzregierung. Warum?

Das System macht keine grossen Sprünge, es macht kleine Schritte. Über seine Effizienz ist man sich nicht einig. Einige meinen, im historischen Rückblick würden die neunziger Jahre dereinst als Periode tief greifender Reformschritte beurteilt werden. Einiges ist in der Tat reformiert worden: Swisscom, Landwirtschaftspolitik, Finanzpolitik, die Beziehungen zur EU, zur Uno. Andere - vor allem die Neoliberalen - sind dagegen der Ansicht, die Reformschritte seien viel zu zaghaft gewesen. Die Wahrheit liegt wohl irgendwo in der Mitte. Wir sind nicht schlecht damit gefahren. Den meisten Menschen geht es ziemlich gut, und solange das so ist, sehen nur wenige eine Notwendigkeit, an diesem politischen System grundsätzlich zu rütteln.

Ist das System der Konkordanz nicht auch deshalb so stark, weil sein Spielraum durch Föderalismus und direkte Demokratie eingeschränkt wird?

Das ist das, was mein verstorbener Kollege Raimund Germann einst mit «institutionalisierten Konkordanzzwängen» bezeichnet hat. Der Föderalismus - auf Bundesebene unter anderem repräsentiert durch den Ständerat - ist sehr stark. Der Ständerat hat die gleiche Macht wie der Nationalrat. Solange dort die gemässigt bürgerlichen Vertreter in der Mehrheit sind, geben sie den Ton im politischen System an. Die SVP ist im Ständerat schwach, weil Ständeratswahlen Majorzwahlen sind. Da hat sie mit profilierten Exponenten wie Blocher oder Ueli Maurer nie eine Chance.

Auch die Instrumente der direkten Demokratie - Referendum und Volksinitiative - gelten als wirksames Mittel, um die Politik einer Regierung zu bremsen. Allerdings: Im Kanton Genf hat eine rein bürgerliche Regierung in den neunziger Jahren trotz zwei spektakulären Niederlagen an der Urne ihre Vorlagen im Grossen und Ganzen durchbringen können.

Doch generell ist bei uns alles auf Beteiligung angelegt und auf Integration. Insofern ist das Verhalten der SVP nicht mit dem System kompatibel. Sie polarisiert in einer Art und Weise, wie man das in einem Konkordanzsystem nicht gewohnt ist. Weil sie dies macht, kommt man überhaupt erst auf die Idee, sie aus der Regierung auszuschliessen und klare Verhältnisse zu schaffen.

Was folgt aus der Feststellung, dass die SVP nicht kompatibel ist mit dem System?

Eine kurzfristige, pragmatische Lösung heisst variable Geometrie mit Konkordanz wie bisher. Aber man sollte die Möglichkeit von Mitte-links- beziehungsweise Mitte-rechts-Koalitionen nicht aus den Augen verlieren. Solche Regierungen hätten den Vorteil, dass sie zu transparenteren Verhältnissen führen und die Verantwortlichkeiten deutlicher machen würden.

Passt sich die SVP mittelfristig an die Usanzen des Systems an oder will sie weiter Grenzen überschreiten?

Schwer zu sagen. Die SVP setzt das Mittel der Provokation wahltaktisch ein, sie wendet sich damit an die Öffentlichkeit. In der Regierungszusammenarbeit wird dann nicht mehr alles so heiss gegessen. Ich denke aber, dass sich die Partei nicht ganz bewusst ist, in welchem Mass sie mit ihrer Kommunikation Grenzen überschreitet. Sie sagt, sie sei nicht fremdenfeindlich, aber die Art, wie sie auftritt, ist extrem fremdenfeindlich. Es ist sehr aufschlussreich, wie unvorbelastete Beobachter aus dem Ausland auf ihre Propaganda reagieren.

In einem internationalen Projekt vergleichen wir die Wahlkämpfe in sechs Ländern. Ganz klar ist: Die SVP gehört zum rechtspopulistischen Lager, wo auch der Front National und die österreichische FPÖ hingehören. Niemand zweifelt daran, dass der Front National eine fremdenfeindliche Partei ist. Die SVP ist allerdings noch extremer.

Zum Schluss: Was wird am 12. Dezember passieren?

Von mir aus gesehen wird nichts passieren. Blocher wird gewählt, die SVP bleibt in der Regierung, alles bleibt beim Alten.


Hanspeter Kriesi

Der Politologieprofessor an der Universität Zürich mit Schwerpunkt Politische Bewegungen leitet den mit 14,5 Millionen Franken dotierten nationalen Forschungsschwerpunkt «Herausforderungen an die Demokratie im 21. Jahrhundert».

Kriesi gehörte 1983 zum Kreis jener linken Intellektuellen, die für den Austritt der SP aus dem Bundesrat plädierten, weil die bürgerliche Mehrheit nicht die Zürcherin Liliane Uchtenhagen, die Wunschkandidatin der Partei, in den Bundesrat gewählt hatte, sondern Otto Stich. Viele sahen in diesem Entscheid einen Beweis dafür, dass die SP nur so weit akzeptiert wird, wie sie hilft, die Machtverhältnisse zu stabilisieren. Ein Gang in die Opposition würde ihr politisches Profil schärfen und ihr ein grösseres Gewicht bei den damals starken ausserparlamentarischen Bewegungen verschaffen. Auch der damalige Parteipräsident Helmut Hubacher war für einen Austritt aus dem Bundesrat. An einem ausserordentlichen Parteitag im Februar 1984 sprach sich aber eine deutliche Mehrheit für den Verbleib im Bundesrat aus.

Die Debatte ist nachzulesen in: Ruedi Brassel, Bernhard Degen, Andreas Gross, Jakob Tanner (Hg.): «Zauberformel: Fauler Zauber?» Z-Verlag. Basel 1984. 271 Seiten.