AKWs und Krebs: Verseuchung im Normalbetrieb

Nr. 51 –

Wie krank machen Atomanlagen? Dank einer aktuellen deutschen Kinderkrebsstudie erhalten alte Forderungen neuen Auftrieb: Die Schweiz braucht ein Krebsregister und seriöse, grenzüberschreitende Untersuchungen.

Wenn das Wetter gut ist, sieht Rita Schwarzelühr-Sutter über den Hügeln die Dampffahne des Atomkraftwerks Leibstadt. Sie lebt im Schwarzwald, nicht weit weg von Waldshut. 1990 begann sie sich mit dem Schweizer Atomkraftwerk auseinanderzusetzen. Damals kam ihr Sohn Philipp zur Welt, und sie wollte wissen, ob es rund um AKWs tatsächlich mehr Krebsfälle gibt. Rita Schwarzelühr schloss sich mit anderen Eltern zusammen und versuchte, Informationen zu sammeln. Die Elterngruppe fand heraus, dass es in Waldshut leicht erhöhte Leukämiezahlen gab, doch verlässliche Daten waren nicht aufzutreiben, weder in Waldshut noch in der Schweiz.

Damals machte auch das deutsche AKW Krümmel Schlagzeilen. WissenschaftlerInnen hatten festgestellt, dass um das AKW auffällig viele Kinder an Leukämie erkrankten. Doch die zuständigen Behörden zweifelten die Ergebnisse an.

Die internationale atomkritische ÄrztInnenorganisation IPPNW belegte 2001, dass auch um zwei bayrische Atomkraftwerke überdurchschnittlich viele Kinder an Krebs erkrankten. Die Behörden reagierten nicht. Erst als die kritischen ÄrztInnen Protestaktionen lancierten und Tausende von Unterschriften sammelten, hatte der Widerstand Erfolg. Das deutsche Bundesamt für Strahlenschutz musste sich dem Druck beugen und gab 2003 beim Mainzer Kinderkrebsregister die Studie «Kinderkrebs um Kernkraftwerke» (KiKK) in Auftrag.

Seit Mitte Dezember liegen die Resultate vor - überraschend eindeutige Resultate: Kinder unter fünf Jahren, die in der Nähe eines der sechzehn deutschen Atomkraftwerke leben, erkranken signifikant häufiger an Krebs - das allgemeine Krebsrisiko ist um 60 Prozent erhöht, das Risiko, an Leukämie zu erkranken, gar um 120 Prozent. Die Studie ist breit abgestützt und umfasst einen Zeitraum von 24 Jahren.

Schweizer Studie kommt

Rita Schwarzelühr sitzt inzwischen für die SPD im deutschen Bundestag. Dass die Studie steht, freut sie - die Resultate weniger: «Die Ergebnisse sind besorgniserregend», doch seien nur deutsche AKWs untersucht worden: «Es braucht jetzt dringend grenzüberschreitende Studien, da Radioaktivität nicht vor der Grenze haltmacht.» Die Politikerin will politisch weiter Druck machen, auf Bundesebene, aber auch im Landkreis Waldshut. Die Region Hochrhein habe schliesslich gleich mehrere Schweizer Atomanlagen vor der Tür. Wenige Kilometer südlich von Leibstadt stehen auf einer Insel in der Aare die beiden Reaktoren von Beznau. Noch etwas südlicher liegt das Paul-Scherrer-Institut, das seit Jahren Atomforschung betreibt. Und in Würenlingen befindet sich das atomare Zwischenlager sowie ein Atommüllverbrennungsofen, der kontinuierlich geringe Mengen Radioaktivität freisetzt.

Schwarzelühr hat inzwischen einflussreiche Verbündete in der Schweiz. Die Krebsliga reagierte prompt auf die deutsche Kinderkrebsstudie und hat bereits eine vergleichbare Untersuchung in Auftrag gegeben.

Zwar verfügt die Schweiz über kein flächendeckendes Krebsregister für Erwachsene (vgl. «Am Geld kann es nicht liegen»), hingegen existiert ein exzellentes Kinderkrebsregister.

Der Mediziner Pierre Morin verfasste schon 1994 eine Dissertation über Kinderleukämie in der Schweiz. Auch ihn trieb die Frage um, ob Atomkraftwerke Krebs verursachten, obwohl er in seiner Arbeit nur am Rande darauf einging. Seine Dissertation wäre jedoch eine gute Basis für weitere Forschung gewesen: Morin fand zum Beispiel im Kanton Solothurn (wo das AKW Gösgen steht) eine unerklärliche Häufung von Leukämiefällen. Doch niemand forschte danach auf diesem Gebiet weiter.

Das Institut für Sozial- und Präventivmedizin der Universität Bern, das die Kinderkrebsstudie für die Krebsliga durchführt, wird nun endlich diese Lücke füllen. Das Institut ist auch bereit, den süddeutschen Raum in die Untersuchung einzubeziehen, und gedenkt, mit dem Mainzer Krebsregister zusammenzuarbeiten, wie Projektleiterin Claudia Kühni gegenüber der WOZ sagt. Beharrlichkeit zahlt sich also aus: Rita Schwarzelühr wird endlich erste Antworten auf ihre alten Fragen erhalten.

Jede Dosis kann Krebs verursachen

Die Schweiz ist winzig, und die Untersuchung dürfte sich schwierig gestalten, weil mit sehr geringen Fallzahlen gearbeitet werden muss (pro Jahr erkranken hierzulande rund 200 Kinder an Krebs). Auch die KiKK-Studie hatte dieses Problem, obwohl Deutsch- land viel grösser ist: In den untersuchten 24 Jahren erkrankten knapp 6000 Kinder an Leukämie, deshalb erwarteten die WissenschaftlerInnen, rund um die AKWs 17 erkrankte Kinder zu finden - man fand dann aber deren 37. Das reicht, um eine klare wissenschaftliche Aussage zu machen. Es lässt sich damit aber nicht beweisen, dass die Atomkraftwerke die Kinder krank gemacht haben. Diverse Medien relativierten deshalb die KiKK-Studie und argumentierten, diese Häufung könne zufällig sein und müsse nichts mit den AKWs zu tun haben. Manche AutorInnen führten an, der Verkehr oder das Passivrauchen verursache wesentlich mehr Kinderleukämiefälle als die AKWs. Vielleicht - doch wozu ein Übel gegen ein anderes hochrechnen? Denn Tatsache ist: Man weiss wenig über die Wirkung von radioaktiver Strahlung. Ursprünglich glaubte man, geringe Strahlendosen seien überhaupt nicht schädlich. Heute weiss man: Das ist falsch - jede Strahlendosis, egal wie gering sie ist, kann Krebs auslösen.

Die heutigen Grenzwerte und Berechnungsmodelle basieren auf Daten, die nach den Atombombenabwürfen in Hiroschima und Nagasaki erhoben wurden. Diese Studien sind aber nur beschränkt gültig, da die Atombombenopfer anderer Strahlung ausgesetzt waren und nur kurz relativ hohe Dosen abbekamen. Bei den Atomkraftwerken wirken jedoch tiefe Dosen über lange Zeit.

«Mehrere neue wissenschaftliche Studien zeigen, dass die Schädlichkeit niedriger radioaktiver Strahlung viel höher ist als bisher angenommen», hält Claudio Knüsli fest, Onkologe und Präsident der PSR/IPPNW Schweiz. Knüsli weist auf eine Studie hin, die die renommierte Internationale Agentur für Krebsforschung durchgeführt hat. Sie wertete die Daten von vierzig Jahren und 400 000 MitarbeiterInnen von Atomkraftwerken in fünfzehn Ländern aus. Das Resultat war frappant: «Angestellte in AKWs sterben infolge radioaktiver Verseuchung am Arbeitsplatz bis zu fünfmal häufiger an Krebs, als aufgrund der bisherigen Erkenntnisse erwartet wurde», fasst Knüsli die Studie zusammen.

All die Ergebnisse «jahrzehntelanger seriöser wissenschaftlicher Untersuchungen sprechen eine deutliche Sprache», sagt Knüsli: «Ein Zusammenhang zwischen radioaktiver Verseuchung durch AKWs - selbst im Normalbetrieb - und Krebshäufung ist nicht von der Hand zu weisen.» Allerdings lasse sich ein einzelner Krebsfall nur schwer direkt mit einem AKW in Verbindung bringen: «Die Beweislast müsste deshalb bei den Betreibern von Atomkraftwerken liegen - sie sollen die von ihnen behauptete Ungefährlichkeit nachweisen.» Knüsli fordert zudem schärfere Strahlenschutzgrenzwerte, was auch gängiger Praxis entspreche: «In den vergangenen vierzig Jahren mussten wiederholt Strahlenschutzgrenzwerte nach unten korrigiert werden, da neue Erkenntnisse darauf schliessen liessen, dass die geltenden Limiten unverantwortlich hoch angesetzt waren.»

Doch dagegen wird sich die Nuklearindustrie stemmen - strengere Limiten erhöhen die Kosten und sind schädlich fürs Image.

Am Geld kann es nicht liegen

Die Schweizer Atomkontrollbehörde liess in den neunziger Jahren - auf Druck der süddeutschen Elterngruppierung (vgl. obigen Text) - die Mortalitätsstatistik durchforsten, um herauszufinden, ob bei den Todesursachen in der Nähe von Kernkraftwerken Besonderheiten auffallen. Die Recherche verlief ergebnislos. «Dies besagt jedoch nichts über die gesundheitliche Gefährdung, die wirklich von Nuklearanlagen ausgeht», kritisierte Martin Walter, Mediziner und ehemaliger Präsident der atomkritischen ÄrztInnenorganisation PSR/IPPNW Schweiz. «Der Ansatz, den die HSK wählte, ist wissenschaftlich höchst fragwürdig», weil bei einer Sterbestatistik alle erfolgreich therapierten Krebserkrankungen schlicht übersehen würden. Nur mit einem flächendeckenden Krebsregister liesse sich herausfinden, wie gefährlich die Atomanlagen sind.

Diverse Kantone haben in den letzten Jahren auf Initiative von Onkologinnen und Pathologen Krebsregister eingerichtet. Ausgerechnet die Kantone, in denen AKWs in Betrieb sind (Aargau, Bern, Solothurn) verfügen jedoch über keine Register. Der Föderalismus hat es bisher verunmöglicht, Krebsdaten schweizweit zu erheben, da die Gesundheitspolitik den Kantonen obliegt. In den vergangenen fünf Jahren gab es im Nationalrat drei Vorstösse, die Bewegung in die Sache bringen wollten. Auch die Vereinigung schweizerischer Krebsregister bemüht sich seit Jahren intensiv um ein umfassendes Register, doch bislang ist nichts passiert. Eigentlich verstehe sie selber nicht, warum es so lange dauere, sagt Silvia Ess, Präsidentin der Vereinigung. Ein Krebsregister sei ein nützliches und notwendiges Instrument für die öffentliche Gesundheitsversorgung, schliesslich sei Krebs immer noch die häufigste Todesursache unter der erwerbstätigen Bevölkerung. Die Vereinigung möchte, dass der Bund die Kantone gesetzlich zwingt, die Daten zu erfassen und anonymisiert an den Bund weiterzuleiten.

Bei ansteckenden Krankheiten wie Aids, Mumps oder Grippe kennt der Bund bereits eine Meldepflicht, und das System funktioniert reibungslos. An den Kosten allein kann es auch nicht liegen. «Wir gehen davon aus, dass ein solches Register pro Einwohner und Jahr einen Franken kostet - und damit wären sämtliche Kosten gedeckt», sagt Ess.