Filmfestival Havanna: «Das sind Mafiosi und Gangster!»

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Enrique Piñeda Barnet war einst der Star des kubanischen Kinos, dann geriet er in Vergessenheit. Nun ist der 74-jährige Regisseur zurück - als Jurymitglied des 29. lateinamerikanischen Filmfestivals Havanna.

Im Kulturbetrieb Kubas ist nicht alles so schwarz und weiss wie in vielen anderen Lebensbereichen dieses Landes mit seinen sehr eigenen politischen Gegebenheiten. «Es gibt Leute und Kräfte im Filminstitut ICAIC (Instituto Cubano de Arte e Industria Cinematografía), die mich immer noch am liebsten für alle Zeiten in der Versenkung verschwunden sähen. Im ICAIC tummeln sich nicht nur schöngeistige Kulturräte, sondern auch Mafiosi und Gangster; doch Sie haben wohl Verständnis dafür, dass ich keine Namen nenne.» Enrique Piñeda Barnet, Regisseur, Drehbuchautor und Literat, sitzt in seinem mit Bildern und Auszeichnungen reich geschmückten Apartment in Havannas Stadtteil Vedado, einer besseren Wohnlage.

Das Filmfestival von Havanna, das zwischen dem 4. und 12. Dezember stattgefunden hat, ist stets eine Wundertüte. Es gibt zwar einen dicken Fes-tivalkatalog, doch die Programmation erfolgt stets nur für den laufenden und den folgenden Tag. Unter den fünfhundert programmierten Filmtiteln im Katalog fehlt das Making-of von Enrique Piñeda Barnets neuem Film. «Die Leitung des Festivals hatte mir versprochen, mich zu benachrichtigen, wann das Making-of von 'Te espero en la eternidad' ('Ich erwarte dich in der Ewigkeit') läuft.» Es sei ein Versehen gewesen, man habe den Film vergessen, liess ihn die Festivalleitung wissen. Dass der Film später nur ein einziges Mal gezeigt wurde, am Tag nach dem offiziellen Festivalende - an dem jeweils noch einmal eine Auswahl von Festivalfilmen in allen Kinos zu sehen ist - , das sei wohl auch ein Versehen, höhnt der kleine, jugendlich wirkende Mann mit dem wachen Blick, und er strahlt dabei Ruhe, Energie und Kampfgeist aus.

Ein Revolutionär der ersten Stunde

Am Tag der Projektion des Making-of ist der Kinosaal gerammelt voll. Unzählige Interessierte müssen abgewiesen werden, eine weitere Vorführung wird nicht durchgeführt - so wird hier mit Filmen verfahren, die aus irgendwelchen Gründen nicht genehm sind. Dabei ist Enrique Piñeda Barnet alles andere als einer, der in Opposition zum herrschenden System steht. Er ist ein Revolutionär der ersten Stunde. Nach dem Sieg der Revolution war er während kurzer Zeit gar Assistent von Che Guevara, und als Ko-Autor des Drehbuches für den legendären Monumentalfilm «Soy Cuba» im Jahr 1964 hat er Filmgeschichte geschrieben.

Im März 2006 erhielt Piñeda Barnet den nationalen Filmpreis Kubas, überreicht von Abel Prieto, dem Kulturminister Kubas. Der Preis, der jeweils am Gründungstag des ICAIC verliehen wird, ist die höchste Auszeichnung für einen Filmschaffenden. Dieses Jahr erhielt Fernando Pérez den Preis. Sein neuer Film «Madrigal» (siehe WOZ 50/07) ist soeben in Schweizer Kinos angelaufen, und am Festival von Havanna wurde der Film am vergangenen Freitag mit dem Spezialpreis der Jury ausgezeichnet. Dieser Preissegen verwundert nicht, der 1944 geborene Fernando Pérez gilt spätestens seit «Madagascar», seinem Adoleszenzdrama aus der Zeit von Kubas grösster Krise im Jahr 1994, als bedeutendster Cineast der Insel.

Bei Enrique Piñeda Barnet dagegen sieht es etwas anders aus. Selbst bei Gesprächen in kubanischen Cineasten- oder Literatenkreisen kann es passieren, dass sein Name mit dem des bekannten Schriftstellers Miguel Barnet verwechselt wird, der vor zwei Jahrzehnten mit der Lebensgeschichte eines entlaufenen Sklaven, «El cimarrón», bekannt wurde. Dabei war Piñeda Barnet einmal der Star des kubanischen Kinos: Mit der freien Adaptation der Novelle «La bella del Alhambra» seines Namensvetters Miguel Barnet machte Enrique Piñeda Barnet 1989 Furore. Es ging darin um eine Kabaretttänzerin, die im vibrierenden und von politischen Konvulsionen erschütterten Havanna der Roaring Thirties als Sängerin einen kometenhaften Aufstieg und den darauf folgenden tiefen Fall erlebte. Der sinnenfrohe und farbige Film war für kubanische Verhältnisse opulent ausgestattet und vereinigte Elemente von Musical und Sozialdrama.

Der Film «La bella del Alhambra» schlug sämtliche Publikumsrekorde, die ein Film in Kuba je erzielt hatte. Das ist bis heute so geblieben, bezüglich Eintrittszahlen in Kuba rangiert der Film mit der jungen Hauptdarstellerin Beatriz Valdés noch vor den Welterfolgen «Fresa y chocolate» (1993) von Tomás Gutiérrez Alea und Juan Carlos Tabío oder «La vida es silbar» (1999) von Fernando Pérez.

Neid und Gerüchte

«Natürlich gab es damals viel Neid in der kubanischen Filmszene, dazu kam, dass der Erfolg genau zu Beginn des 'periodo especial' kam [ein amtlicher Euphemismus für die Krise, die Kuba durch den Zusammenbruch des Ostblocks erlebte, Anm. G. K.]. Es kursierten sofort unglaubliche Gerüchte über mich und Beatriz Valdés, die durch den Film über Nacht zum umjubelten Star wurde», erzählt Piñeda Barnet. Es habe beispielsweise geheissen, er habe die junge und unbekannte Schauspielerin nur deshalb ausgewählt, weil er sie unbedingt habe nackt sehen wollen.

Piñeda Barnet wurde selbst zum Filmstoff: «Paradojas de la vida», ein kurzer Dokumentarfilm des jungen kubanischen Regisseurs Boris Luis González Díaz, der mehrmals am Festival in einer Randsektion lief, beleuchtete Piñeda Barnets künstlerische Karriere. Und «Canción para Rachel», ein abendfüllender Dokumentarfilm des Jungregisseurs Carlos Barba, zeichnete die Lebenswege der Beteiligten von «La bella del Alhambra» nach. Ausser einer Nebendarstellerin und dem Kameramann - und Piñeda Barnet - lebt heute niemand mehr in Kuba. «Ich fühle mich manchmal ziemlich allein, auch meine vier Geschwister leben längst nicht mehr in Kuba», sagt Piñeda Barnet zu seiner persönlichen Situation.

Einhelliges Urteil

Jetzt ist Piñeda Barnet wieder eine entscheidende Stimme im Filmzirkus - zumindest als Juror. «Für mich war es seit 1989 das erste Mal, dass ich überhaupt wieder am Filmfestival anwesend war, und in 28 Festivaljahren war es gar das erste Mal, dass man mich als Jurymitglied auswählte», sagt er und zeigt sich begeistert über seine Jurorentätigkeit in der internationalen Jury und die Zusammenarbeit mit seinen drei KollegInnen, zu denen unter anderen der argentinische Regisseur Carlos Sorín gehörte. «Ich hätte auch gerne so regelmässig Filme realisiert, wie das etwa Carlos in den letzten Jahren konnte», sagt Piñeda Barnet und schwärmt dann davon, dass man sich beim Siegerfilm «Stellet Licht» («Stilles Licht») des Mexikaners Carlos Reygadas einig gewesen sei, dass dieses ästhetisch überwältigende Beziehungsdrama aus einem Mennonitendorf im Norden Mexikos alles überragte, was sonst im (Haupt-) Wettbewerb der Spielfilme lateinamerikanischer Regisseure lief.

Was seinen ersten eigenen Spielfilm seit achtzehn Jahren betrifft, das Drama «Te espero en la eternidad», so ist dieser zwar fertig gedreht, doch wie es mit dem Schnitt und der Postproduktion weitergehen soll, ist noch offen. «Das liegt nicht nur an der Besetzung des Filminstituts ICAIC, sondern auch an dessen Strukturen», erklärt er. Der Film handelt von den durch die Emigration zerrissenen kubanischen Familien - für Piñeda Barnet das Problem, das am schwersten auf dem Land lastet. In seinem Film habe er davon erzählen wollen - metaphorisch und sinnenfroh zugleich.

«'Te espero en la eternidad' ist junges kubanisches Kino», sagt jemand, der es wissen muss: Ismael Diego, dreissig Jahre alt, Fotograf, Grafikdesigner und Cutter, spielt im Film die erste Hauptrolle seines Lebens. Sein Debüt hatte er vor drei Jahren in einer Nebenrolle in «Habana Blues». Diego hat an der Filmschule von San Antonio de los Baños bei Enrique Piñeda Barnet Fotokurse besucht und sich mit dem Regisseur angefreundet. «Enrique hat mich förmlich bekniet, ich solle in seinem neuen Film die Hauptrolle spielen, einen rebellischen Sohn aus einer sehr systemkonformen Familie. Wie Enrique das Thema angeht, hat mich fasziniert; er hat einen unglaublich weiten Horizont und dabei die Neugier eines Kindes bewahrt. Das soll ihm mit seinen 74 Jahren erst mal jemand nachmachen.»