Der wissenschaftliche Film: Ohne Geschichten geht es nicht

Nr. 5 –

Forschung soll einem Laienpublikum zugänglich gemacht werden. Wie funktioniert das im Medium Film? Ein Gespräch mit der Filmwissenschaftlerin Anita Gertiser vom Filmseminar der Universität Zürich.

WOZ: Noch nie gab es so viele wissenschaftliche Sendungen im Fernsehen. Filmhochschulen richten neue Studienbereiche zum wissenschaftlichen Filmen ein. In den letzten Jahren sind einige neue Festivals aus dem Boden geschossen, die sich einzig dem Wissenschaftsfilm widmen. Steht der wissenschaftliche Film in einer neuen Blüte?

Anita Gertiser: Es widerspiegelt ein gesellschaftliches Phänomen - die Menschen sind sehr interessiert an Wissenschaft. Das sieht man an all diesen Wissenschaftsausstellungen: Science et Cité, 150 Jahre ETH und so fort. Die dort gezeigten Filme haben oft wenig mit dem zu tun, was die WissenschaftlerInnen eigentlich machen. Sie bereiten etwas fürs Publikum auf. Und das Publikum strömt in Scharen. Das hat nebst dem Faszinosum Wissenschaft auch damit zu tun, dass die Leute wissen möchten, wie die WissenschaftlerInnen die Welt erklären. Zum andern sind sie skeptischer geworden und wollen sehen, wozu ihre Steuergelder eingesetzt werden.

Auf der andern Seite hat die Wissenschaft erkannt, dass sie nur Geld bekommt, wenn sie auch zeigen kann, was sie macht.

Der Wissenschaftsfilm will also sichtbar machen, was die Wissenschaft tut?

Es geht darum, wissenschaftliche Befunde sichtbar zu machen, indem man die Aufnahmetechniken des Films nutzt. Ganz grundsätzlich muss man festhalten: Der Film kommt aus der wissenschaftlichen Forschung. Er wurde entwickelt, um Bewegungsabläufe, die man mit der Fotografie nicht festhalten konnte, sichtbar zu machen. Die Bilder mussten laufen lernen.

Die Wissenschaft hat schon früh technische Apparaturen entwickelt, um beispielsweise mit Zeitraffer zu zeigen, wie eine Pflanze wächst. Oder mit Zeitlupe den Flug eines Vogels zu verlangsamen und dadurch zu studieren. Auf der andern Seite erzeugt dieses Instrumentarium wunderschöne, faszinierende Bilder, die etwas aussagen über ihren wissenschaftlichen Gehalt hinaus.

Demnach ist das Bild die dominante Komponente im Wissenschaftsfilm?

Nein - das Bild hält ja nur einen wissenschaftlichen Befund fest. Dieser muss aber eingeordnet und erklärt werden. Man muss die Befunde in einer bestimmten Art und Weise vorführen, um eine wissenschaftliche Erkenntnis vermitteln zu können.

Mit welchen Mitteln geschieht diese Vermittlung?

Es geht um eine Popularisierung des Wissens, das heisst, man muss die Befunde in eine verständliche Sprache übersetzen. Und da sind wir dann bereits beim Kommentar. Die meisten wissenschaftlichen Filme sind mit einem Kommentar versehen. Weil die Bilder nicht für sich selber sprechen.

Und wie verhalten sich Bild und Kommentar zueinander?

Das Wort dominiert. Das ergibt sich aus der Tradition, aus der heraus der Wissenschaftsfilm entstanden ist: aus dem populärwissenschaftlichen Vortrag. Den hat man zuerst mit Dias illustriert. Später dann wurden diese durch das bewegte Bild ersetzt. Die Art und Weise der Vermittlung ist die gleiche geblieben. Es ist der Vortrag, der die eigentlichen Wissensinhalte vermittelt. Die Bilder illustrieren ihn. Aufgabe des Publikums ist es dann, den Sinn des Gesagten im Bild zu suchen.

Die Art der Vermittlung hat sich im Fall des Wissenschaftsfilms seit den Anfängen des Kinos tatsächlich nicht verändert?

Eigentlich nicht, nein. Das heisst, hier unterscheidet sich der epische, dokumentarische Film vom wissenschaftlichen Film im engeren Sinn. Ersterer lässt den Bildern Raum, ihre Aussagekraft zu entwickeln, sodass sich das Publikum eigene Gedanken machen kann. Der Insektenfilm «Mikrokosmos» geht in diese Richtung.

Während der populäre Wissenschaftsfilm auf der andern Seite eine klare Botschaft vermitteln will. Und diese will er auch kontrollieren, um sicherzugehen, dass die beabsichtigte Aussage ankommt. Hier ist das Wort sehr, sehr wichtig.

Ist diese Dominanz des Kommentars nicht auch gefährlich?

Geschichtlich ist es tatsächlich so, dass dem Wissenschaftsfilm etwas Propagandistisches anhaftet. Weil der Kommentar eine solche Macht hat, kann man ihn natürlich auch missbrauchen. Wie es im Nationalsozialismus der Fall war.

Weshalb gelingt es eigentlich dem Bild kaum, sich von seiner Funktion zu befreien, das Gesagte zu illustrieren?

Das liegt daran, dass ein Bild nie eindeutig ist. Und es kommt immer drauf an, in welchem Kontext es steht - beim bewegten Bild umso stärker: es hat ein Bild vorher und eins nachher. Und ich mache eine semantische Brücke - ich kann gar nicht anders als versuchen, einen Sinnzusammenhang zwischen diesen Bildern herzustellen. Das macht der Wissenschaftsfilm eben über den Kommentar.

Fehlt es dem Wissenschaftsfilm an ästhetischer Qualität?

An ästhetischen Bildern fehlt es sicher nicht. Was hingegen zu wenig genutzt wird, sind die filmischen Gestaltungsmittel wie zum Beispiel die Montage. Wenn Wissenschaft vermitteln will, muss sie zwangsläufig Geschichten erzählen. Dabei könnte sie auch gezielt auf Sehgewohnheiten zurückgreifen, die über das vergangene Jahrhundert Filmgeschichte gebildet haben. Die CSI-Sendungen führen zurzeit wöchentlich vor, wie attraktiv wissenschaftliche Bilder sind und wie sich dadurch das Bild der Wissenschaft verändert. Nun stehen die WissenschaftlerInnen unter Zugzwang. Sie werden den Publikumserwartungen vermehrt Rechnung tragen müssen.