Umweltzerstörung: Schlamm am Stecken

Nr. 14 –

48 000 Badewannen Schlamm pro Stunde ergiesst Vulkan Lusi über das indonesische Ostjava - seit einer missglückten Bohrung vor zwei Jahren. Die Gasfirma wäscht ihre Hände in Unschuld.

Ajis und seine Frau Muslikah leben mit ihren vier erwachsenen Kindern in einem zehn Quadratmeter grossen Bretterverschlag in einem Lager auf dem Marktplatz des Dorfes Porong. Ajis weiss genau, wie lange schon: «seit einem Jahr und zwei Monaten». Damals versank mit dem Haus und der Schreinerwerkstatt von Ajis die Lebensgrundlage der Familie in heissem, schweflig stinkendem Schlamm. Der stammt aus 3000 Metern Tiefe aus einem Schlammvulkan in Ostjava, im Distrikt Sidoarjo, zwanzig Kilometer von Indonesiens zweitgrösster Stadt Surabaya entfernt.

Die Menschen in Sidoarjo nennen den Schlammvulkan Lusi, eine Wortschöpfung aus dem indonesischen Wort Lumpur - Schlamm - und Sidoarjo. Seit dem 29. Mai 2006 quellen täglich schätzungsweise 176 000 Kubikmeter Schlamm in unmittelbarer Nähe des Bohrlochs Banjar Panji 1 (kurz BPJ-1) der Öl- und Gasfirma Lapindo Brantas aus der Erde. Das ist genug, um stündlich 48 000 Badewannen zu füllen. 800 Hektar Land sind mittlerweile von den Schlammmassen bedeckt. Zwölf Dörfer hat Lusi verschlungen. Mehr als 10 000 Familien haben ihre Häuser, ihre Reisfelder, ihre Werkstätten verloren. Zerstört hat Lusi zudem 25 Leder- und Textilfabriken, die in der Region am meisten Arbeitsplätze zu vergeben haben. Auch Strassen, eine Eisenbahnlinie sowie eine wichtige Stromversorgungslinie für die dichtbesiedelte Region sind dem Schlamm zum Opfer gefallen.

Menschgemachte Katastrophe

Die Öl- und Gasfirma Lapindo Brantas gehört zum Imperium des Unternehmers Aburizal Bakrie, laut «Forbes Magazine» reichster Mann Indonesiens mit einem Vermögen von fünf Milliarden US-Dollar. Gleichzeitig ist der einflussreiche Unternehmer - er soll Staatspräsident Susilo Bambang Yudhoyono mit grosszügigen Wahlkampfspenden unterstützt haben - auch Sozialminister.

Irgendwas war am 29. Mai 2006 im BPJ-1 schiefgelaufen. Die einen behaupten, Lapindo Brantas sei bei der Erschliessung eines neuen Gasfeldes in der Nähe von Sidoarjo unsachgemäss und stümperhaft vorgegangen. Das Unternehmen hatte Anfang März mit Bohren begonnen, in der Annahme, in 2591 Metern Tiefe auf eine Kalksteinschicht zu stossen. Dies war jedoch nicht der Fall. In 2834 Metern Tiefe schliesslich kam es am 28. Mai zu einem sogenannten Kick, einem unkontrollierten Einbruch von Flüssigkeit in das Bohrloch.

Eine Fortsetzung der Bohrung war nach dem Kick nicht mehr möglich. Experten werfen der Öl- und Gasfirma vor, beim letzten Stück der Bohrung auf die übliche Ummantelung des Bohrers verzichtet und durch diesen eklatanten Fehler den Kick verursacht zu haben. Zudem hätten die Verantwortlichen vor Ort zu spät auf das drohende Desaster reagiert. «Sie haben den Kick erst nach einigen Stunden bemerkt», sagt Richard Davies, Direktor des Forschungszentrums für Geoenergiesysteme der britischen Universität Durham. Davies, der bereits zwei wissenschaftliche Studien über den Schlammvulkan veröffentlicht hat, macht Lapindo Brantas für die Katastrophe verantwortlich. «Ich bin zu 98 Prozent sicher, dass die Bohrung an Banjar Panji 1 den Schlammvulkan ausgelöst hat. Die Daten zeigen, dass der Druck im Bohrloch ein kritisches Level erreicht hat.»

Lapindo Brantas weist jede Verantwortung von sich und gibt stattdessen, gestützt auf wissenschaftliche Gutachten, einem Erdbeben die Schuld, das zwei Tage vor der Lusi-Katastrophe im knapp 300 Kilometer entfernten Yogyakarta rund 6000 Menschen das Leben gekostet hatte. So kommt der Schlammvulkanexperte Adriano Mazzini von der Universität Oslo in seiner Studie zum Schluss, der unterirdische Schlammvulkan sei bereits vor dem Erdbeben in einem «kritischen Zustand» gewesen: «Obwohl diese Schlussfolgerung nur auf Indizien beruht, deuten unsere gesammelten Beobachtungen darauf hin, dass das Erdbeben vom 27. Mai den Ausbruch ausgelöst haben kann.»

Wissenschaftlich bewiesen ist die Erdbebenthese damit noch nicht. Zudem ist sie mit dem Makel behaftet, dass eine Reihe von indonesischen Wissenschaftlern laut dem angesehenen indonesischen Magazin «Tempo» gegen gute Bezahlung für Lapindo Gefälligkeitsgutachten verfasst haben sollen. Professor Davies hält gar nichts von der Erdbebenthese. Er verweist auf Forschungsergebnisse über den Zusammenhang von Erdbeben und dem Ausbruch von Schlammvulkanen und folgert: «Das Beben von Yogyakarta war wahrscheinlich zu schwach und zu weit entfernt.»

Umweltzerstörung wächst

Der Schlammvulkan fasziniert nicht nur WissenschaftlerInnen. Tausende Neugierige kommen jeden Tag, um die Katastrophe mit eigenen Augen zu sehen. Der Weg rauf zum provisorischen Damm um den Schlammsee führt auf einem mehr als wackeligen Holzsteg über eine grosse Wasserpfütze. Einheimische verlangen 5000 Rupien (etwa 50 Rappen) «Eintritt». Oben auf dem Damm bieten fliegende Händler Getränke und Snacks an. Andere haben DVDs mit Fotos und Filmaufnahmen im Angebot. Wer bereit ist, noch tiefer in die Tasche zu greifen, wird mit dem Moped zum zweiten Damm gefahren, da wo Bagger arbeiten, nahe dem Zentrum von Lusi. Von dort steigen ohne Unterbrechung heisse, grauweisse Qualmwolken auf.

Der erste Eindruck: ein weiter See, der ruhig, grau und bleiern daliegt. Das Schreckliche dringt erst nach und nach ins Bewusstsein. Wenn man dieses bizarr aussehende Etwas, das ein paar Meter entfernt aus der Brühe ragt, als einen Dachgiebel erkennt. Dahinter ein zweiter. Weiter rechts lugen ein paar kahle Wände wie kariöse Zahnstummel aus dem Wasser. Auch von der Moschee ist nur noch das Dach zu sehen. Mehr ist vom Dorf Kelurahan Siring nicht übrig. Und es wird nicht das letzte sein, das im Schlamm versinkt.

Unter der Leitung der Sidoarjo Mudflow Mitigation Agency haben indonesische und internationale Experten bislang vergeblich versucht, den Schlamm einzudämmen. Unter anderem wurden mehr als 1500 Zementblöcke im Loch versenkt, in der Hoffnung, es zu stopfen. Jetzt wird der achtzig bis hundert Grad heisse Schlamm in den Fluss Porong gepumpt, der den Dreck ins Meer transportieren soll. Die Fische im Porong überleben diese Massnahme nicht. Leidtragende sind auch die vielen Krabbenfarmer in der Umgebung von Surabaya. Dabei hatte eine Beobachtergruppe der Uno bereits im Juli 2006 vor einer solchen Lösung gewarnt, weil der Schlamm das Leben in ufernahen Meeresbereichen abtöten könne.

Mittlerweile ist auch klar: Die Pumpen können die Schlammmassen nicht bewältigen. Jetzt bereiten die Experten den direkten Abfluss des Schlamms in den Porong vor. Dem Versuch werden die drei Dörfer Besuki, Kedungcankring und Pejarakan geopfert. Weitere Menschen werden ihre Heimat verlieren.

Und noch eine andere Gefahr bedroht die Bevölkerung seit der Lusi-Katastrophe: Es ist das Gas, das an mindestens achtzig Stellen aus der Erde austritt. Meist sieht man es nicht und riecht es auch nicht. Aber es ist hochgiftig - und leicht brennbar. So wie die gut fünf Meter hohe Gas-Wasser-Fontäne, die in einem Dorf zwischen mittlerweile verlassenen Häusern emporschiesst. «Die hat vorgestern gebrannt», sagt Win, einer der wenigen Bürgerrechtler, die sich um die Nöte der Lusi-Opfer kümmern. «Sie mussten die Flughafenfeuerwehr aus Surabaya holen. Die hiesige Feuerwehr war nicht in der Lage, den Brand zu löschen.»

Lapindo verweigert Verantwortung

Indonesiens Regierung hat Lapindo Brantas gesetzlich verpflichtet, den Betroffenen eine bescheidene Entschädigung von umgerechnet 628 Franken für den Verlust von Haus und Grundstück zu entrichten, nicht aber für die Vernichtung der wirtschaftlichen Grundlage der Familien. In ihrer Not haben viele das Angebot akzeptiert, wohnen jetzt verstreut in Dörfern und Städten zur Miete. «Sie haben auch ihre Dorfgemeinschaft verloren», sagt Win. «Eine wirkliche Zukunft haben sie nicht.»

Ajis und die anderen 680 Familien in Porong haben klare Vorstellungen davon, wie sich ihre Situation nachhaltig verbessern liesse. Die Mittel sollten für den Kauf von Land und den Bau neuer Dörfer verwendet werden und nicht für die Miete. So könnten sie wieder leben und arbeiten, wie sie es gewohnt waren, erklärt Win: als Reisbauern oder Handwerker. «Manche haben ihren Lebensunterhalt auch mit einem kleinen Warung, einem Imbissstand, verdient.»

Die Mittel von Lapindo Brantas sind nicht mehr als ein Tropfen auf den heissen Stein. Allein die wirtschaftlichen Schäden und die Kosten für einen Wiederaufbau der zerstörten Infrastruktur schätzt der Internationale Währungsfonds auf bisher 3,7 Milliarden Dollar oder ein Prozent des indonesischen Bruttosozialprodukts. Das soll aus dem Staatshaushalt bezahlt werden.

Ajis und Muslikah laden zum Essen ein: gelber Reis, etwas Tofu mit Chili und ein Stück Huhn. «Ich würde mir wünschen, dass die Regierung hart durchgreift und auf der Seite des Volkes stünde», sagt Ajis. Damit sieht es schlecht aus. Anfang März 2008 hat ein Parlamentsausschuss Wissenschaftler angehört, die ausschliesslich die Erdbebentheorie vertreten. Ihren Entschluss fällten die Mitglieder des Ausschusses entsprechend: Lusi hat eine rein natürliche Ursache, die Firma Lapindo Brantas trifft keine Schuld.

In Indonesien stehen im kommenden Jahr Präsidentschafts- und Parlamentswahlen an, da will man den einflussreichen Besitzer von Lapindo Brantas, den Unternehmer und Sozialminister Aburizal Bakrie, nicht vor den Kopf stossen. In Sidoarjo war Bakrie, seit Lusi ausgebrochen ist, übrigens noch nie.