Durch den Monat mit Irène Schweizer (Teil 3): Wie wird der Kopf leer?

Nr. 16 –

Irène Schweizer: «… mit Fäusten und Ellbogen, alles geben, das war wahnsinnig aufregend.»

WOZ: Wie sind Sie zur freien Improvisation gekommen?
Irène Schweizer: Das lief ganz organisch in den Bands, in denen ich war. Wir wollten aufhören mit diesen immer gleichen Themen aus dem «Great American Songbook», über die man funktionsharmonisch improvisiert, und ganz frei spielen. Dabei ist es wichtig, dass man die Musiker und Musikerinnen gut kennt. Man geht miteinander den gleichen Weg, entwickelt sich weiter. Ich spiele seit Jahren mit denselben zehn, fünfzehn Leuten.

Können Sie rational erklären, warum es mit manchen klappt und mit anderen nicht?
Das ist schwierig. Man merkt intuitiv: So wie der oder die improvisiert oder sich verhält beim Spielen – das passt mir nicht. Da will ich nicht in die Tiefe gehen in der Musik. Da kann jemand noch so sympathisch sein. Umgekehrt gibt es Leute, mit denen ich zusammengespielt habe, aber nicht unbedingt befreundet sein will. Manchmal kann ich fast nicht glauben, wie gross die Diskrepanz zwischen Leben und Musik sein kann.

Ist es strenger, auf die Bühne zu gehen und völlig frei zu improvisieren, als nach Noten zu spielen?
Nicht immer. Mit dem Saxofonisten Omri Ziegele habe ich ein Programm, African Music, für das wir Stücke eingeübt haben. Das kann auch anstrengend sein. Du bist eingeengt, weil du nicht einfach das Repertoire ändern kannst. Mit der Bassistin Joëlle Léandre spiele ich hingegen ganz frei. Sie kommt aus der E-Musik, ich komme vom Jazz. Mit vorgefassten Meinungen oder Melodien geht das nicht. Du musst einen leeren Kopf haben, ganz offen sein, ohne Anfang und Ende. Das ist schwierig mit Worten zu erklären.

Wie bekommen Sie einen leeren Kopf?
Man muss ganz konzentriert sein und alles vergessen, die Jazzakkorde und die Techniken, die man gelernt hat. Einfach so hineintauchen und fertig. Die freie Improvisation war sehr wichtig für mich. Diese Freejazz-Powerplay-Phase in den siebziger Jahren, als alle auf den Instrumenten möglichst viel Lärm machten – mit Fäusten und Ellbogen, alles geben, Kraft, das war wahnsinnig aufregend. Dynamisch immer zuoberst. Ich liess es nicht gelten, wenn sich jemand dem Publikum anpasste, zum Teil liefen die Leute scharenweise raus. Wir sagten immer: «Ist doch uns egal. Uns gefällts.» Heute habe ich mich ziemlich beruhigt diesbezüglich.

Sie haben kürzlich mit Joëlle Léandre in der Ausstellung der abstrakten Expressionistin Sonja Sekula im Kunsthaus Aarau gespielt …
Ja. Wir wurden überrannt, sie erwarteten 80 Leute, es kamen 140. Fast nur Frauen. Es war eine Superstimmung, wahnsinnige Vibrationen vom Publikum.

Schon früher haben Sie eine Solo-CD nach einem Bild von Sekula benannt. Was bedeutet sie Ihnen?
Ich sah dieses Bild – «Many and One Direction» – in einer Retrospektive im Kunstmuseum Winterthur, und es sprach mich sofort an, auch der Titel. Man warf Sekula vor, sie habe keinen eigenen Stil, weil sie mit verschiedenen Techniken arbeitete. Sie ging bewusst in verschiedene Richtungen. Und ich mache das ja auch. Ich habe die ganze Jazzmusik von Anfang an gespielt, Ragtime, Boogie-Woogie, Modern Jazz, Cool Jazz – und ich hörte nie auf damit. Auch in der Zeit, als alle nur frei improvisierten und es verpönt war, sich auf etwas zu beziehen. Ich hielt mich nie daran. Auch heute – ich spiele Thelonious Monk, südafrikanisches Repertoire, freie Improvisationen, sehr vielfältig. Und da fühle ich mich verbunden mit Sonja.

Haben Sie sie einmal getroffen?
Nein, sie starb bereits 1963. Aber man erzählte mir, sie sei Anfang der sechziger Jahre in Zürich im «Africana» verkehrt. Vielleicht war sie auch einmal da, als wir dort spielten. Sie war so eine tolle Künstlerin. Wenn sie ein Mann gewesen wäre – sie hat ja mit John Cage und Merce Cunningham in New York gelebt –, wäre sie weltberühmt. Das ist wieder typisch. Da kann man sich wirklich aufregen.

Regen Sie sich immer noch auf?
Ja. Hoffentlich! Diese Tradition von eigenwilligen Frauen ist mir schon wichtig. Und dass sie auch lesbisch war. Eine Schwester! (lacht)

Lesbische Jazzmusikerinnen gibt es viele, aber warum gibt es so wenig schwule Jazzmusiker? Diese Frage haben Sie vor Jahren in der WOZ einmal gestellt. Haben Sie inzwischen eine Antwort?
Nein. Ich weiss von einigen international bekannten Musikern, dass sie schwul sind. Aber ich glaube, sie werden sich nie outen. Darüber redet man nicht. Das ist immer noch eine Mackerszene, vor allem die Musiker aus meiner Generation.

Irène Schweizer (66) ist Jazzpianistin.