Justizskandal in Guatemala: Die hüftkranke Tatwaffe

Nr. 17 –

Der Bischof und Menschenrechtler Juan Gerardi wurde vor zehn Jahren ermordet. Viele Unschuldige wurden verhaftet, etliche ebenfalls umgebracht. Ein spanischer Gerichtsmediziner behauptete gar, ein Hund habe Gerardi getötet. Die Auftraggeber sind noch immer frei.

Nachts um halb elf ist die Zone 1 in Guatemala-Stadt für gewöhnlich so gut wie ausgestorben. Die einzigen Menschen, die man um diese Zeit trifft, sind obdachlose BettlerInnen, die sich in Hauseingängen vor der Kälte schützen. Und die Wachen vor dem Nationalpalast. Vielleicht kommt ab und zu auch ein Taxi vorbei. Ansonsten geht nur die Angst um. Die Angst vor Überfällen und Entführungen. Im Zentrum von Guatemala-Stadt sind solche Straftaten besonders häufig.

Am späten Abend des 26. April 1998 waren vor dem Pfarrhaus der San-Sebastián-Gemeinde, gerade zwei Häuserblocks vom Nationalpalast entfernt, mehr Menschen unterwegs als in sonstigen Nächten. Ein Dutzend BettlerInnen schnarchten lautstark unter dem schützenden Vordach des Gebäudes und im gegenüberliegenden Park. Ein Taxifahrer döste hinter dem Steuer seiner Droschke und wartete darauf, dass ihn ein Funkspruch aus der Zentrale zu irgendeinem späten Kunden schickt. Und noch ein zweiter Wagen stand am Strassenrand: Ein weisser Toyota Corolla mit dem Nummernschild P - 3201, zugelassen auf die Armee. Bei Don Mike, einem kleinen Laden zwei Ecken weiter, brannte noch Licht. Drei Militärs standen dort zusammen und tranken. Einer war Coronel Byron Disrael Lima, ein anderer General Otto Pérez Molina, beide ehemals Chefs des militärischen Geheimdiensts. Der dritte wurde von niemandem erkannt. Kurz nach halb elf rannte ein junger Mann mit nacktem Oberkörper aus der Garage des Pfarrhauses hinüber zum weissen Corolla. In dieser Nacht wurde Bischof Juan Gerardi erschlagen.

Wie im Horrorfilm

Drei Jahre später sind Coronel Lima und zwei weitere Militärs wegen dieses Mordes zu je dreissig Jahren Haft verurteilt worden. Pfarrer Mario Orantes, der zusammen mit Gerardi im Pfarrhaus wohnte und ihm bei der Verrichtung seines religiösen Dienstes geholfen hatte, bekam wegen Beihilfe zwanzig Jahre Gefängnis. Das Urteil wurde von höheren Instanzen mehrfach geändert. Nach heutigem Stand waren die drei Militärs nicht mehr die Täter, sondern nur noch Komplizen. Wer den Bischofsmord angeordnet hat, liegt noch immer im Dunkeln. Auch die nachfolgenden Morde wurden nie geklärt.

Es gab viele Morde, die der Tat vom 26. April 1998 folgten: Am 12. Februar 2003 wurde Obdulio Villanueva, einer der drei verurteilten Militärs, im Gefängnis getötet - angeblich im Zusammenhang mit einer Meuterei. Auch die meisten BettlerInnen, die in jener Nacht vor dem Pfarrhaus und im Park gegenüber schliefen, wurden später irgendwo in der Stadt tot aufgefunden. Derjenige, der am meisten gesehen und als ehemaliger Soldat General Pérez Molina eindeutig erkannt hatte, wurde zur Sicherheit ins Ausland gebracht. Auch die meisten mit dem Fall betrauten Staatsanwälte und Ermittlungsrichter gingen ins Exil. Dazu die engsten Mitarbeiter von Gerardi. Pérez Molina dagegen ist heute der wichtigste Oppositionspolitiker des Landes. Am 4. November vergangenen Jahres ist er bei der Stichwahl um die Präsidentschaft dem Sozialdemokraten Álvaro Colom nur knapp unterlegen. Über seinen Sohn lässt er bestreiten, in jener Nacht überhaupt in Guatemala-Stadt gewesen zu sein. Die Stempel in seinem Pass würden das beweisen, schrieb Pérez junior am 21. Oktober 2007 in einem Leserbrief an die «New York Times». Stempel dürften für den ehemaligen Chef des militärischen Geheimdienstes kaum ein Problem sein.

Bischof Juan Gerardi war 75 Jahre alt, wirkte aber viel jünger. Er hatte volles graues Haar, war 1,85 Meter gross und über 100 Kilo schwer. Er trank gerne Whisky und galt als Witzbold. Am Abend seines Todes war er - wie fast jeden Sonntag - kurz vor halb elf mit seinem weissen VW Golf von einem Abendessen bei seiner Schwester nach Hause gekommen. Er hatte selbst die Garage geöffnet und den Wagen geparkt. Der Mörder war schon da. Mindestens elfmal hat er mit einem Betonklotz auf den Kopf des Geistlichen eingeschlagen, stellte ein erster Obduktionsbericht später fest. Das Gesicht des Opfers war völlig entstellt, Gehirnmasse war aus dem mehrfach gebrochenen Schädel getreten. Der Täter war Rechtshänder und höchstens zehn Zentimeter kleiner als Gerardi.

Fotos vom Tatort legen nahe, dass die Leiche ursprünglich nicht dort gelegen hatte, wo sie später von der Polizei aufgefunden wurde. Auf diesen Bildern sind Blutspuren zu sehen, die darauf hinweisen, dass der Körper quer durch die geräumige Garage gezerrt und neben einem vor dem VW geparkten Toyota abgelegt worden war. Doch eine Spurensicherung fand nicht statt. Im Gegenteil: Pfarrer Orantes wies die Haushälterin Margarita López an, den Tatort gründlich zu reinigen. Das tat sie auch.

Ronalth Ochaeta, der damalige Leiter des Menschenrechtsbüros des Erzbistums von Guatemala-Stadt, sprach von Anfang an von einem «politisch motivierten Verbrechen» und suchte die Täter in Militärkreisen. Die Vermutung lag auf der Hand. Ochaeta hatte drei Jahre lang gemeinsam mit Gerardi an einem Bericht über Menschenrechtsverletzungen im guatemaltekischen Bürgerkrieg (1960 bis 1996) gearbeitet. 55 000 Fälle wurden darin dokumentiert. Für achtzig Prozent der Verbrechen wurden die Armee oder von ihr kontrollierte Todesschwadronen verantwortlich gemacht. Zwei Tage vor dem Mord hatte Gerardi das vierbändige Werk bei einem Gottesdienst in der Kathedrale vorgestellt.

Alibi in der Spelunke

Doch Otto Ardón, ein ehemaliger Rechtsberater des Verteidigungsministeriums, der als Staatsanwalt mit dem Fall betraut worden war, verfolgte eine andere Spur. Vier Tage nach dem Mord liess er den 24-jährigen Carlos Enrique Vielman verhaften, einen notorischen Alkoholiker mit einem langen Strafregister, von Körperverletzung bis hin zur sexuellen Nötigung. Ardóns «Hauptverdächtiger» sei aufgrund eines von der Polizei gefertigten Phantombilds erkannt worden. Das Bild war von den Zeitungen verbreitet worden und zeigte einen Mann mit indigenen Zügen - was etwa auf die Hälfte der guatemaltekischen Bevölkerung zutrifft. Vielman ist klein, höchstens 1,60 Meter gross. Er hat einen verkrüppelten rechten Arm. Und er hatte ein Alibi: Er hatte sich in der Tatnacht zusammen mit zwei Kumpeln in einer Spelunke betrunken - kilometerweit entfernt vom Pfarrhaus San Sebastián. Die Kneipenwirtin hat das bezeugt.

Trotzdem blieb Vielman drei Monate in Haft. Danach hätte die Staatsanwaltschaft formell Anklage erheben müssen. Doch kurz vor Ablauf dieser Frist fand Ardón einen neuen «Hauptverdächtigen». Am Morgen des 22. Juli 1998 riegelten mehrere Hundertschaften von Polizei und Armee die Gegend rund um das Pfarrhaus San Sebastián ab. Als Pfarrer Orantes von einem Termin kommend zurück in seine Wohnung wollte, wurde er verhaftet. Er habe, so die Staatsanwaltschaft, den Bischof umgebracht. Ein «Verbrechen aus Leidenschaft». Schnell kursierten Gerüchte in der Stadt: Der 75-jährige Gerardi und der 39-jährige Orantes hätten ein Verhältnis mit derselben Frau gehabt. Oder gar eines miteinander.

Baloo in der Zelle

Wer Orantes nur einmal gesehen hat, mag das nicht glauben: Ein fettleibiger Asthmatiker, kurzatmig und ständig verschwitzt und häufig von schweren Migräneanfällen geplagt. Ganz gewiss kein Latin Lover. Nicht für eine Frau und auch nicht für einen Bischof. Seinem deutschen Schäferhund Baloo war er ein strenges Herrchen. Auf einem Zettel in seinem Schlafzimmer fanden sich - in deutscher Sprache - Befehle wie «Fass!» und «Aus!» zum Auswendiglernen. Baloo, so Staatsanwalt Ardón, sei die Tatwaffe gewesen. Beweis: Er habe dem spanischen Gerichtsmediziner José Manuel Reverte Fotos der Leiche geschickt, und der habe darauf etwas entdeckt, das bei der Obduktion niemand aufgefallen war: Hundebisse im Gesicht Gerardis.

Die Leiche des Bischofs wurde noch einmal ausgegraben, Reverte zu einer zweiten Obduktion eingeflogen. Ausser ihm nahmen vier guatemaltekische und drei US-amerikanische Gerichtsmediziner an der Untersuchung teil, darunter auch Spezialisten für Hundebisse. Als es zur Erstellung des Abschlussberichts kam, gerieten die Kollegen lautstark aneinander. Die Guatemalteken und US-Amerikaner hatten keine Hundebisse gefunden, Reverte aber sehr wohl.

Der Mann hat eine Geschichte. Fünf Jahre zuvor war er von der Wahrheitskommission im benachbarten El Salvador wegen ähnlich hanebüchener Befunde entlassen worden. Er sollte ein Massaker in dem Dorf El Mozote untersuchen, bei dem die Armee 1981 rund tausend ZivilistInnen ermordet hatte. Reverte erwog alle möglichen Ursachen des massenhaften Tods, sogar eine Epidemie. Nur eben kein Massaker.

Bevor er von Guatemala zurück nach Spanien flog, wies er einen Assistenten an, einen Finger der Leiche des Bischofs abzutrennen. Ein Souvenir für die gerichtsmedizinische Sammlung in seinem Institut in Madrid. Doch als Gerardis Körper zum zweiten Mal in den Sarg gelegt wurde, fiel einem Kirchenmann auf, dass da ein Gliedmass fehlte. Unter Protest rückte Reverte den bereits in einer Schatulle verpackten Finger wieder heraus.

Selbst wenn man die Hundebisstheorie geglaubt hätte - Baloo wäre als Mörder nicht infrage gekommen. Das Tier war zur Tatzeit elf Jahre alt und litt seit langem an einer Hüftkrankheit. Ohne fremde Hilfe konnte es sich nicht einmal aufrichten. Ein Wärter, der den Hund im Tierheim bewachte, erzählt: «Wir haben ihm in die Geschlechtsteile getreten, um seine Aggressivität zu testen. Aber Baloo hat nicht einmal gebellt.» Er starb in Haft, bevor seine Unschuld aktenkundig wurde.

Drahtzieher im Dunkeln

Orantes aber wurde wieder freigelassen. Die Staatsanwaltschaft hatte neue «Hauptverdächtige»: Eine Bande von KirchenschatzräuberInnen und DrogendealerInnen, zu der pikanterweise eine Nichte des Schatzmeisters der Kurie gehörte. Gerardi sei der Bande auf die Schliche gekommen und deshalb aus dem Weg geräumt worden. Auch der Chef dieser Bande wurde im Gefängnis ermordet. Tote können sich nicht entlasten.

Staatsanwalt Ardón musste, als er nach internationalem Druck endlich ausgetauscht wurde, nicht ins Exil. Die ihm nachfolgenden Staatsanwälte und Ermittlungsrichter aber sehr wohl. Denn die recherchierten richtig. Sie brauchten nur längst protokollierte Aussagen durchlesen und daraus ihre Schlüsse ziehen, und schon wussten sie, wer zu verhaften war: Coronel Byron Disrael Lima - ehemaliger Chef des militärischen Geheimdienstes - , sein Sohn Byron Lima und Obdulio Villanueva, Letztere beides Mitglieder der gefürchteten Präsidentengarde. Und dazu Pfarrer Mario Orantes. Irgendjemand muss den Täter schliesslich ins Haus gelassen haben. General Otto Pérez Molina wird in den Gerichtsakten erstaunlicherweise nicht erwähnt.

Bevor es zum Prozess kam, versuchte der damalige Präsident Álvaro Arzú, die Notbremse zu ziehen. Er schickte seinen Bruder Antonio zu Gerardis Nachfolger Mario Ríos Montt, damit er diesem einen Deal vorschlage: Orantes werde freigelassen, wenn die Kirche ihrerseits die drei Militärs für unschuldig erkläre. Ein durchaus verlockendes Angebot. Um den Priester rankten sich inzwischen Geschichten von Homosexualität und Pornovideos, die angeblich in seinem Zimmer gefunden worden seien. Und dann auch noch Beihilfe zum Bischofsmord. Für die konservative katholische Kirche Guatemalas war das mehr als nur peinlich. Doch Ríos Montt lehnte den Handel ab und erzählte stattdessen die Geschichte vor Gericht. Auch Arzú, inzwischen schon nicht mehr im Amt, sollte dazu vernommen werden. Doch als Expräsident wurde er automatisch Mitglied im Zentralamerikanischen Parlament. Als solches geniesst er Immunität und muss nicht als Zeuge vor Gericht erscheinen. Er wurde zwar geladen, aber er kam nicht. Auch seine Rolle bleibt vorerst im Dunkeln.

Doch Menschenrechtsorganisationen geben nicht auf. Zehn Jahre nach dem Bischofsmord verlangen sie weiterhin Aufklärung. Man kenne inzwischen zwar die materiellen Täter, sagt Carlos Alarcón vom Verband für Menschenrechte in Guatemala (ODHAG). Bis zu den Anstiftern aber sei man nicht durchgedrungen. Offensichtlich habe das für Strafverfolgung zuständige Innenministerium daran keinerlei Interesse. «Wir haben immer wieder die Ernennung eines Sonderstaatsanwalts gefordert», sagt Alarcón. «Schliesslich handelt es sich nicht um irgendeinen Fall, sondern um einen emblematischen Fall für den Zustand der guatemaltekischen Gesellschaft.»