London: Der letzte Kampf des Roten Ken

Nr. 18 –

Seit acht Jahren regiert der Labour-Linke Ken Livingstone die Hauptstadt und hat fast alles richtig gemacht. Dennoch könnte er die Wahl am 1. Mai verlieren - gegen einen reaktionären Hanswurst.

Sein alter Elan ist dahin, seine frühere Frechheit hat sich verflüchtigt, sein Witz kommt kaum noch an. Und wenn der Londoner Bürgermeister, wie vor ein paar Tagen, seinen konservativen Gegner verspottet, hat der schlagfertige Boris Johnson oft die Lacher auf seiner Seite.

Er habe in seinen acht Amtsjahren viele schwierige Entscheidungen treffen müssen, sagte Ken Livingstone an einer Podiumsdiskussion im Bürodschungel von Canary Wharf, dem zweiten Zentrum des britischen Finanzkapitals. Sein Hauptkonkurrent, den er für einen überaus unterhaltsamen Menschen halte, habe bisher hingegen nur eine Frage beantworten müssen: Wohin gehe ich nach der Sitzung mit meinen Leuten zum Lunch? «Das war gar nicht so einfach», konterte daraufhin Johnson, «aber immerhin habe ich Führungsqualität bewiesen.» Das Publikum johlte, die dezent gekleideten Bank-, Börsen- und VersicherungsmanagerInnen führten sich auf wie eine Horde ausgelassenener Schulkinder, ihr Boris hatte schon wieder gewonnen.

So geht das schon seit Wochen. Wann immer die beiden Kontrahenten aufeinandertreffen (meist ist auch der ehemals hochrangige Polizeioffizier Brian Paddick dabei, der für die Liberaldemokraten kandidiert), klopft Johnson seine Sprüche. Und Livingstone, der schon so viele Kämpfe ausgefochten hat, der Margaret Thatcher, Tony Blair und Gordon Brown die Stirn bot (vgl. «London, Labour und Livingstone»), rudert mit aller Kraft dagegen. Er argumentiert mit seiner Kompetenz, liefert Fakten, verweist auf seine Erfolge - und wirkt doch müde und manchmal auch blasiert, wie ein angeschlagener CEO, der sich vor seinen AktionärInnen rechtfertigen muss. Er, der ewige Rebell und Aussenseiter, ist Teil des Establishments geworden. Und das macht ihm zu schaffen.

Denn die BritInnen lieben Underdogs. Aber mögen sie die auch so sehr, dass sie den in ihren Augen unterlegenen Johnson in das wichtigste Amt der Hauptstadt hieven? Einen Mann, der sich bisher vor allem durch konservative, manchmal reaktionäre und rassistische Kommentare hervorgetan hat? Der Schwarze als «Negerlein mit dem Melonenlächeln» bezeichnete und den Islam für «die bösartigste sektiererische Religion der Welt» hält?

Der Rechte liegt vorn

Viel vorzuweisen hat Boris Johnson nicht. Er genoss eine privilegierte Ausbildung, lernte (wie David Cameron, der konservative Oppositionsführer) in der Eliteschule Eton, studierte (wie Cameron) in Oxford und arbeitete danach als Journalist - zuerst bei Lokalzeitungen, dann bei der «Times», anschliessend beim konservativen «Daily Telegraph» und zuletzt als Chefredaktor und Herausgeber des nicht minder reaktionären Magazins «Spectator». Johnson ist also eine Art Roger Köppel - nur lustiger.

Und so einer hat nun gute Chancen, die Bürgermeisterwahl zu gewinnen. Dass er keine Verwaltungserfahrung besitzt, bestreitet Johnson nicht - «aber das», sagte er vor kurzem, «hatten Margaret Thatcher und Tony Blair auch nicht, als sie in die Downing Street 10 gewählt wurden». Schon wieder ein Punkt für den Mann, der selbst politische GegnerInnen zum Lachen bringen kann und sich selbst schon mal als «Clown» bezeichnet.

Laut Umfragen liegt der Kandidat mit den verstrubbelten Haaren noch immer deutlich vor Ken Livingstone. Die konservativen Medien sehen Boris Johnson mit zehn Prozent vorn, der linksliberale «Guardian» dagegen rechnet mit einem Kopf-an-Kopf-Rennen.

Eine andere Umfrage sieht zwar Livingstone in den ärmeren Vierteln weit vorn, vermeldet aber, dass dort nicht einmal dreissig Prozent der Wahlberechtigten überhaupt abstimmen wollen. Der Amtsinhaber, der seit Jahrzehnten wie kein anderer Lokalpolitiker gegen Rassismus und Unterdrückung ankämpft und auf vielen Anti-Irakkriegs-Kundgebungen sprach, kann offenbar nicht einmal Minderheiten wie die rund 400 000 stimmberechtigten Muslime mobilisieren.

Was lief da schief? War.um favorisiert eine Mehrheit der Bevölkerung einen 44-jährigen Exzentriker, der den Klimaschutz für eine Nebensache hält? Und der wochenlang kein anderes Thema fand als die Wiedereinführung der alten Routemaster-Doppeldeckerbusse, auf deren Heck man aufspringen konnte (Livingstone hatte sie durch rollstuhlgängige Gelenkbusse ersetzt)?

Umstritten und umweltbewusst

«Das Hauptproblem für Ken ist New Labour», sagt Tony Benn, der alte Labour-Linke. «Er wird für die katastrophale Politik der Regierung mitverantwortlich gemacht, obwohl er dafür nichts kann.» Viele lasten Premierminister Gordon Brown die aktuelle Finanzkrise (allein die UBS hat in Britannien letzte Woche über tausend Leute gefeuert) und die Erschütterungen auf dem Immobilienmarkt an. Die Lebensmittelpreise schnellen in die Höhe, Postämter sollen geschlossen werden, und dann hat Browns Kabinett vor ein paar Wochen auch noch eine Verdoppelung der Steuern für Geringverdienende beschlossen - um Steuersenkungen für Reiche und Firmen zu finanzieren. Die liberalen BürgerInnen wiederum empört die Tatsache, dass Brown die Dauer der Untersuchungshaft ohne Angaben von Gründen von 28 auf 42 Tage verlängern will.

Wen immer man in diesen Tagen auch befragt: Eine Meinung zum Bürgermeister haben alle. Mehmet Berker zum Beispiel, ein türkischstämmiger Architekt, lässt auf den «Roten Ken» nichts kommen: «Er hat den öffentlichen Verkehr gerettet, mit dem Geld aus dem Roadpricing den Busverkehr ausgeweitet und Tages-, Wochen-, Monats- und Jahreskarten für alle Verkehrsmittel eingeführt.» Natürlich werde er ihn wiederwählen. Dass Livingstone die Strassengebühr für benzinschluckende Geländewagen auf 25 Pfund pro Tag (umgerechnet 30 Euro) anheben und 500 neue Hybridbusse einführen will, hält er für eine ausgezeichnete Idee.

Neil Stockwell hingegen beklagt genau dies: Er könne ja nicht einmal mehr ins Stadtzentrum fahren, sagt der Händler im Osten von London. Die Strassenmaut hat die Bevölkerung gespalten. Auf der einen Seite die ÖV-Nutzerinnen, auf der anderen die Autofahrer; hier die StadtbewohnerInnen, dort die Wohlhabenderen aus den Vororten. So gesehen ist die Wahl auch eine Art demokratischer Öko-Test: Wie viele Menschen sind bereit, Einschränkungen hinzunehmen? Boris Johnson tourt bei seinem Wahlkampf vor allem durch die besseren Viertel.

Auch andere Faktoren spielen eine Rolle. Die Medien zum Beispiel: Die Londoner Lokalblätter - der «Evening Standard» und die Pendlerblätter - hassen Livingstones Politik. Für sie ist er ein Antisemit, weil er den früheren israelischen General und Ministerpräsidenten Ariel Sharon wegen der Massaker in den palästinensischen Flüchtlingslagern Sabra und Shatila (1982) einen Kriegsverbrecher nannte. Für sie ist er Terroristenfreund, weil zu seinen Unterstützern einer zählt, der wiederum einen kennt, der die Motive palästinensischer Selbstmordattentäter für nachempfindbar hält. Der «Evening Standard» machte vorletzte Woche daraus sogar die Plakatzeile: «Islamischer Extremist betreibt Kens Wahlkampagne.»

«Ich kann ihn nicht mehr sehen, es wird Zeit, dass er geht», sagt Sabrina Volk, eine deutsche Immigrantin. «Aber vielleicht verlasse ich mich zu sehr auf das, was in den Zeitungen steht.» Auf jeden Fall aber müsse ein neues Gesicht her. Das wünschen sich auch viele Linke.

«Ken hat sich zu sehr mit dem Big Business eingelassen», meint Pauline Rowe, eine alte Aktivistin. «Er setzt sich für die Globalisierung und den Freihandel ein», sagt sie und zitiert den Londoner Chef des Unternehmerverbands CBI, demzufolge «Livingstone viel für das Geschäftsleben getan» hat. Sein Einsatz für die Olympischen Spiele, die 2012 in London stattfinden werden, seine Unterstützung für Grossbauprojekte - all das kommt bei den Firmen gut an.

Viele Fehler

Aber Rowe mag keine reaktionären Dünnbrettbohrer («das würde die Stimmung in der Stadt schlagartig verändern») und gibt Livingstone ihre zweite Stimme. Und auf die kommt es an. Wenn keineR der KandidatInnen auf Anhieb über fünfzig Prozent erzielt, wird den beiden vorne liegenden Bewerbern (aller Wahrscheinlichkeit nach Livingstone und Johnson) die zweite Präferenz all jener zugeschrieben, die den weniger aussichtsreichen BewerberInnen ihre erste Stimme gaben.

Doch noch zögern viele. Dass sich der Rote Ken für weitgehende Polizeibefugnisse ausspricht und die Londoner Polizei selbst nach dem Mord am Brasilianer Jean Charles de Menezes (er wurde nach den Londoner Anschlägen 2005 von Polizisten erschossen) vorbehaltlos deckte, kreiden ihm vor allem Linke an. Er sei ein Kontrollfreak, der für immer mehr Videokameras im öffentlichen Raum plädiert, sagen sie, die ihm (wie die Medien) andererseits vorwerfen, dass er seine Mitarbeiterinnen und Berater nicht an der kurzen Leine führe und deren Geschäftsgebaren nicht genügend überwache.

Livingstones Sozial- und Umweltengagement steht ausser Frage. Dennoch hat er kurz vor der Wahl einen schweren Stand - weil sein konservativer Gegner inzwischen ein neues Wahlkampfthema ausgemacht hat: die gefühlte Unsicherheit. Wo auch immer Livingstone Fakten zitiert (die Kriminalität in London sinkt laut offiziellen Polizeiangaben seit Jahren; rassistische Gewalttaten sind gegen den nationalen Trend noch deutlicher gesunken), kommt einer daher, der schaurige Geschichten zu erzählen weiss, die schnurstracks von den Medien und Johnson aufgegriffen werden. «Livingstone tut nichts gegen crack-rauchende Jugendliche in seinen neuen Bussen», titelte vor zwei Wochen eine Pendlerzeitung. In einer Grossstadt findet man überall eine Story.

Der ferngesteuerte Johnson

Die Direktwahl hat den Wahlkampf zu einem Personality-Contest, zu einer Art Schönheitswettbewerb gemacht, bei der es mehr auf die Person und weniger auf die Politik ankommt. Das weiss auch Johnsons PR-Team. Der Mann mit dem losen Mundwerk wurde unter die Fuchtel des Medienmanagers Lynton Crosby gestellt, der für den früheren australischen Premier John Howard drei fremdenfeindliche Wahlkämpfe organisiert hatte. Er hat Johnson jede konkrete Aussage verboten - und hofft, dass sein Zögling keinen Fehler macht. Das hofft auch Oppositionsführer David Cameron. Sollte Johnson die Wahl gewinnen, hätte er bei der nächsten Unterhauswahl leichtes Spiel. Nachdenklichere Konservative sind sich da freilich nicht so sicher. Sollte Johnson die Wahl gewinnen, sagen sie hinter vorgehaltener Hand, «könnten wir bald zum Gespött im ganzen Land» werden.

Am Ende, glaubt Tony Benn, «wird sich Livingstone doch noch durchsetzen». Und falls nicht, stehe Johnson eine harte Zeit bevor: «Dann werden die Leute massenhaft protestieren». So leicht gäben sie nicht auf, «was sie in den letzten Jahren gewonnen haben.»


London, Labour und Livingstone

Seit Ken Livingstone, 62, 1981 zum Vorsitzenden des Greater London Council (GLC), dem Rat von Grosslondon, gewählt wurde, ist er der Politiker, den alle mit der 7,5-Millionen-Metropole assoziieren. Kaum im Amt, senkte der Rote Ken die Fahrpreise im öffentlichen Nahverkehr, rief Kampagnen gegen den Rassismus aus, investierte in den sozialen Wohnungsbau, schuf eine Entwicklungsagentur (die dezentrale, innovative und umweltschonende Produktionsformen förderte) und liess am Ratsgebäude die aktuelle Arbeitslosenzahl so gross anschreiben, dass sie die damals regierenden Konservativen unter Margaret Thatcher im Unterhaus auf der anderen Seite der Themse gut sehen konnten.

Weil sie den populären Livingstone nicht ausschalten konnte, schaffte Thatcher 1986 den GLC kurzerhand ab. Auch Tony Blair konnte Livingstone nicht ausschalten, als er im Jahre 2000 - einem Wahlversprechen folgend - wieder eine übergeordnete Verwaltung für die 33 Stadtbezirke einsetzte, die für den Verkehr, die Stadtplanung und die Polizei zuständig sein sollte. Denn kaum war die Stelle des Oberbürgermeisters ausgeschrieben, meldete sich das langjährige Labourmitglied Livingstone - und gewann in einer parteiinternen Kandidatenwahl die meisten Stimmen. Blair hintertrieb seine Bewerbung, Livingstone trat daraufhin als Unabhängiger an, gewann die Bürgermeisterwahl mit grossem Vorsprung, und wurde aus der Partei geworfen.

Er richtete ein Standesamt für gleichgeschlechtliche Eheschliessungen ein, kritisierte den Irakkrieg (Blair-Freund George Bush sei «die grösste Bedrohung des Lebens auf diesem Planeten», sagte er), führte das Roadpricing für Privatfahrzeuge ein und kämpfte lange (aber erfolglos) gegen die Teilprivatisierung der Londoner U-Bahn, die von Blair und Gordon Brown vorangetrieben wurde.

2004 krebste Blair zurück: Der Rote Ken bekam - gegen Browns Widerstand - sein Parteibuch wieder, gewann die Wahl, erweiterte das Strassenzollgebiet, baute den Verkehrsverbund aus und schloss mit Venezuelas Regierungschef Hugo Chávez einen Deal: Caracas lieferte billiges Öl für Londons Busse, dafür halbierte Transport for London (TfL) die Buspreise für sozial Bedürftige. Seit 2007 betreibt TfL zuvor privatisierte S-Bahn-Strecken. Und übernahm den Betrieb des Bankrott gegangenen privaten U-Bahn-Konsortiums Metronet, das an der Profitgier seiner EigentümerInnen gescheitert war. Zug um Zug holt Livingstone so das privatisierte Transportwesen wieder für die öffentliche Hand zurück. All das steht jetzt auf dem Spiel.

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